Space Travelers

Die Ausstellung "Space Travelers" ist eine Reise durch die Erinnerung, der Versuch, die "kosmische" Vergangenheit der 1970er Generation in Litauen neu zu erfahren. Sie beginnt mit dem Fernsehturm in Vilnius, dem höchsten Gebäude in Litauen (326,50 m). Die Aussichtsplattform erinnert an eine (fliegende) Untertasse und dreht sich alle 55 Minuten einmal um die eigene Achse. Hier befindet sich das Kaffee "Milky Way" (Milchstraße). Man kann hier Kaffee trinken und sich über Vilnius einen Überblick verschaffen, nicht durch einen Stadtführer, sondern durch eine atemberaubende Schau aus der Vogelperspektive.

Hier hat alles begonnen. Noch immer gibt es in der Nähe des Fernsehturms einen Kindergarten mit einem geisterhaften Spielplatz, der an eine Mondlandschaft erinnert (er könnte in der Tat jeden Augenblick abgerissen werden). Dieser Ort hat sowohl die Cooltūristės als auch Ugnius Neruda mit Neringa Černiauskaitė angeregt, den verblassenden Erinnerungen nachzugehen, die das einstmalige "kosmische" Viertel von Vilnius betreffen. Beinahe jede größere Stadt in der früheren UDSSR hatte ein solches. Doch die Besonderheit der litauischen Version war eine seltsame Mischung aus Weltraumrethorik und den fernen Echos heidnischer Mythologie. Naturverbundenheit und der Glaube an den technologischen Fortschritt waren im atheistischen Staat kein Widerspruch. Die Litauer haben sich nämlich immer ganz bewusst als die "letzten Heiden Europas" gesehen und damit ihren Nationalstolz begründet. Mag sein, dass das der Grund ist, warum für das 1970 neu errichtete Wohnviertel Karolinškės nur eine einzige eindeutige Bezugnahme zum sowjetischen Raumfahrtprogramm auszumachen ist, und zwar der Name der Hauptstraße: Die "Straße der Kosmonauten" (heute: Freiheitsstraße).

Alle anderen Straßen, Geschäfte oder Bushaltestellen tragen die Namen von Himmelskörpern oder von Naturphänomenen: Saturn, Merkur, Komet, Regenbogen, Donner, Blitz, Meteorit, Wirbelsturm, Sterne, Mond. Es überrascht also nicht, dass jeder Kindergarten und jeder Spielplatz mit einer stählernen Kugel und einem Raumschiff in Form einer Rakete ausgestattet war. Raumfahrer war das, was man als Großer werden wollte. Die namentlich nicht aufscheinenden Künstler der Cooltūristės laden zusammen mit den Performern von Nunu den Betrachter ein, sie in ihrer Mondmission zu begleiten und beziehen sich dabei auf ein heute noch existierendes Gerücht, dass die Apollo 11-Mondlandung von Stanley Kubrick inszeniert in Hollywood stattgefunden habe und dass die Amerikaner in Wirklichkeit nie auf dem Mond gelandet seien. Ihre Mondlandung inszenieren die Cooltūristės und die Nunu also in der Mondlandschaft des Weltraumkindergartens (Space Kindergarten, 2012). Sie steigen aus einem "Erinnerungs"-Raumschiff und folgen der alten Straßenbahnlinie mit ihren "himmlischen" Haltestellennamen.

Seit dem 13. Januar 1991 ist alles anders: Vierzehn unbewaffnete Zivilisten wurden hier getötet, weil sie sich vor dem Turm den sowjetischen Militärkräften entgegenstellten. Straßen wurden seither umbenannt und den Helden gewidmet und der Fernsehturm ist heute eine Gedenkstätte inmitten eines Nadelwaldgürtels, der inoffiziell als Friedhof für Tiere genutzt wird. Dieses seltsame Zusammentreffen war für den jungen Performer der Gruppe Nunu - Žygimantas Kudirka der Auslöser für sein Gedicht über Tiere im Weltraum. Ugnius Gelguda und Neringa Černiauskaitė benutzen das schwarz-weiß Foto eines unfertigen Sendeturms als Sprungbrett zu einem parallelen Universum. Dieses imaginäre Gebäude ist Teil eines noch nicht realisierten Szenarios zu einem ersten litauischen Science-Fiction-Film. Sie lassen sich von denselben kosmischen Gegebenheiten anregen, erschaffen aber andere Mythen und Stimmungen. Ihr Film "In the Highest Point", (2011), gedreht mit einer 16 mm-Kamera, holt die Aura der verschwindenden utopischen Architektur zurück.

Kristina Inčiūraitė vollzieht einen Ortswechsel, wir befinden uns aber immer noch in Sichtweite. Auch das Wohnviertel Lazdynai wird vom Fernsehturm dominiert, auch hier beherrschen Konzepte der Beobachtung und der ständigen Überwachung das Stadtbild. Mithilfe von Teleobjektiven ist Inčiūraitė drei Männern gefolgt, auf ihrem Weg von der Bushaltestelle bis zu ihrem Zuhause in Lazdynai. Die Erzählungen dieser Überwachung sind in ihrem Film Following Piece, (2011), mit Bildern eines Waldes gekoppelt, der sich im selben Viertel befindet. Nacheinander tauchen in diesem Wald einzelne Frauen auf, die ihren Hund spazieren führen. Wer wird von wem verfolgt? – fragt die Künstlerin.

Ihr neuer experimenteller Dokumentarfilm "The Meeting" (2012), verwebt noch einmal imaginäre Landschaften mit hochfliegenden Träumen, auch diesmal diente ein "fliegendes" Bauwerk aus der Sowjetzeit als Inspirationsquelle. Eine Seilbahn oder ein Fahrstuhl, wie sie oder er Kindheitserinnerungen entstammt, bringt die Künstlerin zu einer weit entfernten Stadt in die Region Kalingrad in Russland. Im Film beginnt Kristina Inčiūraitė eine Brieffreundschaft mit einer gleichaltrigen Frau aus der Stadt Svetlogorsk, die im Internet nach neuen Bekanntschaften sucht. Die Autorin verwendet einen männlichen Namen und verschweigt ihrer Briefpartnerin, dass das Ganze Teil eines Kunstprojektes ist. Das Spiel mit der Identität verbindet sich in metaphorischer Weise mit der ungelösten Situation der an der Küste verkehrenden Seilbahn von Svetlogorsk. Einer enormen und augenfälligen Konstruktion, die durch die Einflüsse der Erosion dem Verfall preisgegeben ist.

Die Generation dieser Weltraum-Künstler sucht nach der verlorenen Vergangenheit und projiziert sie in die Gegenwart. Indem sie nach verborgenen Erinnerungslandschaften gegenwärtiger Städte suchen, erschaffen sie alternative Szenarien für die Zukunft. Aber möglicherweise drehen sie sich auch nur im Kaffee "Milky Way" auf Vilnius" Fernsehturm und versuchen, indem sie in Kreisen und Spiralen denken statt in geraden Bahnen, die historische Zeitrechnung in eine mythische umzuwandeln. Eine Reise in den Raum ist immer auch eine Reise in die Zeit.

Space Travelers
5. April bis 1. Juni 2013