Scheiternde Liebespaare – Zum 100. Geburtstag von Marcel Carné

Marcel Carné gehörte zu den großen Regisseuren des französischen Vorkriegskinos. Sein Name ist untrennbar mit dem poetischen Realismus verbunden, sein berühmtestes und auch zeitlosestes Werk gelang ihm aber während der nationalsozialistischen Okkupation mit "Les enfants du paradis – Die Kinder des Olymp" (1943 – 1945). Das Filmpodium Zürich widmet Carné anlässlich seines 100. Geburtstags eine Retrospektive.

Unklarheit herrschte lange über das Geburtsdatum des französischen Filmregisseurs Marcel Carné. Der 18. August 1906, manchmal sogar 1903 wurde angegeben, inzwischen scheint man sich aber auf 1909 geeinigt zu haben. Als Sohn eines Pariser Kunsttischlers sollte er den Betrieb des Vaters übernehmen, arbeitete aber nach Schule und Militärdienst zunächst als Versicherungsvertreter und ließ sich in seiner Freizeit zum Kameramann ausbilden.

Sein Kurzfilm "Nogent, Eldorado et Dimanche" (1929), in dem er halbdokumentarisch die Wochenendvergnügungen der Pariser Jugend schildert, ist gewissermaßen ein französischen Gegenstück zum fast gleichzeitig entstandenen deutschen Film "Menschen am Sonntag". Diese impressionistische Studie machte Rene Clair und Jacques Feyder auf Carné aufmerksam und sie engagierten ihn als Regieassistenten. In dieser Funktion arbeitete er unter anderem an Clairs "Sous les toits de Paris" (1930) und Feyders "Le kermesse heroique – Die klugen Frauen von Flandern" (1935).

Als Feyder sein Projekt "Jenny" (1936) wegen anderer Verpflichtungen aufgeben musste, übernahm es Carné, zog aber Jacques Prévert als Drehbuchautor hinzu, der auch an zahlreichen folgenden Werken Carnés mitarbeiten sollte. War dieser Film schon bei der Presse ein Erfolg, so gelang ihm mit der Kriminalgroteske "Drôle de drame" (1937), in der in intelligenten Dialogen bissig bürgerliche Wertvorstellungen angegriffen wurden, der große Durchbruch.

Schlag auf Schlag folgten nun mit "Quais des brumes" (1938), "Hôtel du Nord" (1938) und "Le jour se lève" (1939) drei Filme, die als Höhepunkt des poetischen Realismus gelten. Gemeinsam ist ihnen auf inhaltlicher Ebene, dass proletarische Liebespaare an der Gesellschaft scheitern und die fatalistische Grundhaltung. Formal verbindet sie die Einhaltung der klassischen Einheiten von Ort, Zeit und Handlung, sowie die Evokation einer hoffnungslosen Atmosphäre durch perfekte Studiobauten, die das Artifizielle der nächtlichen Nebelstimmungen gar nicht vertuschen wollen, durch die Geschlossenheit aber Intensität erzeugen.

Während andere Filmemacher wie Jean Renoir oder Rene Clair während der deutschen Okkupation in die USA emigrierten, blieb Carné in Frankreich, obwohl seine Vorkriegsfilme von den Besatzern verboten wurden. Unter schwierigsten Bedingungen realisierte er 1942 "Les visiteurs du soir", in dem er in Form einer mittelalterlichen Legende von einem Paar erzählt, dessen reine Liebe der Teufel zu vernichten versucht.

Sein folgender Film sollte dann sein berühmtester werden. Mit dem im Pariser Theatermilieu des frühen 19. Jahrhunderts spielenden "Les enfants du paradis – Die Kinder des Olymp" (1943-45) gelang ihm ein überschäumendes Bekenntnis zur Schönheit des Lebens und der Gefühle. Schon das Heben und Senken des Vorhangs an Anfang bzw. Ende des dreistündigen Melodrams signalisiert die Gleichsetzung von Leben und Theater. Meisterhaft beschwört Carné in diesem unglaublich detailreich ausgestatteten Liebesfilm (Ausstattung: Alexandre Trauner) die Atmosphäre der Zeit. Und dank großartiger Darsteller und des perfekten Drehbuchs von Jacques Prvert hat diese Geschichte einer unglücklichen Liebe nichts von ihrer emotionalen Kraft, nichts von ihrer Leidenschaft und ihrer Schönheit verloren.

Nach Kriegsende konnte Carné weder an das Niveau von "Les enfants du paradis" noch an die Erfolge der Vorkriegszeit anknüpfen. Pessimismus und düstere Poesie waren nicht gefragt und zunehmend übten junge Filmkritiker, die bald auf den Regiestuhl wechseln und die Nouvelle Vague begründen sollten, Kritik an den handwerklich soliden, aber ohne persönliche Handschrift gedrehten Filmen – dem so genannten "Cinéma de qualité".

Nach dem Misserfolg mit der poetisch-traumhaften Liebesgeschichte "Les portes de la nuit – Die Pforten der Nacht" (1946) hatte Carné, der sich zudem von seinem Drehbuchautor Prévert trennte, zunehmend Schwierigkeiten Filme zu realisieren. Bei der Aktualisierung von Emile Zolas Roman "Thérèse Raquin – Du sollst nicht ehebrechen" (1953) fand nur die Leistung Simone Signorets in der Titelrolle Beachtung und auch der Versuch den poetischen Realismus mit "L´air de Paris" (1954) neu zu beleben scheiterte. Bis 1977 drehte der Altmeister weiterhin Filme, wirklicher Erfolg war ihm aber keiner mehr beschieden. Aus gesundheitlichen Gründen musste er schließlich seine Arbeit aufgeben, versuchte es dann 1992 nochmals mit der Adaption einer Maupassant-Novelle, doch das Projekt scheiterte an Geldmangel und Carné starb schließlich am 31.10.1996 in Clamart nahe Paris.

Filmausschnitt - "Les enfants du paradis - Die Kinder des Olymp"