Satyajit Ray - Das Frühwerk

Satyajit Ray (1921–92) war weder der erste indische Filmemacher, dessen Werke mit einer gewissen Regelmäßigkeit auf europäischen Festivals gezeigt wurden, noch war er der erste, der ein solches gewann. Und dennoch scheint alles mit ihm zu beginnen: Sein Erstling "Pather Panchali" (1955) wurde bei der Weltpremiere im Museum of Modern Art in New York – anlässlich der Ausstellung Textile and Ornamental Arts of India – als eine Offenbarung gefeiert, die Fortsetzung "Aparajito" (1956) in Venedig gleich mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet.

Ray erwies sich allerdings nicht als Eintags-Auteur: Bis zu seinem Tod wurde die Entwicklung seines Werks weltweit verfolgt, auch wenn es kaum je in seiner ganzen Komplexität wertgeschätzt wurde. Manchen bereiteten z.B. seine Politisierungsversuche der frühen 70er Jahre Kopfzerbrechen, andere wussten nicht so recht, was sie mit Rays wiederholten Ausflügen in die Welt des Unterhaltungskinos anfangen sollten. Dabei lag sein Genie genau in dieser Vielfalt, dem Spiel mit kinematografischen Genres und Idiomen – und der beständigen Suche nach einer Form von Zeitgenossenschaft. Dies zeigt sich schon zur Gänze im ersten, äußerst dichten Jahrzehnt seines Schaffens.

Ende der 90er Jahre veranstalteten das Filmmuseum und die Viennale zum ersten Mal eine umfassende Ray-Retrospektive, wobei allerdings einige Filme wie die Komödie "Parash Pathar" (Der Stein der Weisen, 1958) oder das Erlösungsmelodram "Abhijan" (Die Expedition, 1962) fehlten. Die Schau zum Jahreswechsel 2013/14 präsentiert nun Rays komplettes Frühwerk, von seiner Assistenz bei Jean Renoir (The River) und seinem Debüt "Pather Panchali" bis zur perfekten Zwischensumme, dem Diptychon "Kapurush-o-Mahapurush" (Der Feigling und der Heilige, 1965) – und eröffnet so, pars pro toto, einen Blick auf diesen kinematografischen Kosmos in seiner ganzen Fülle. Möglich wurde dies durch die grandiose Restaurierungsarbeit, die das Academy Film Archive in Los Angeles nach Rays Tod übernommen hat.

Satyajit Ray entstammte einer bengalischen Intellektuellenfamilie: Sein Großvater Upendrakishore Raychaudhuri war ein berühmter Verleger, Musiker, Kinderbuchautor und Pionier des Rasterdrucks; sein Vater Sukumar Ray wurde ob seiner Satiren gefürchtet und für seine Nonsensreime geliebt. Satyajit Ray führte die Familientradition des Renaissance-Genies fort: Er verfasste eine Serie von Kinderkrimis, die mit seinen Illustrationen in einem von ihm herausgegebenen Jugendmagazin erschienen, kreierte mehrere Schrifttypen (u.a. die "Ray Bizarre"), erwies sich als brillanter Komponist – und drehte über dreißig Filme.

Studiert hatte er Malerei, aber das Kino war stärker. 1947 gründete Ray mit dem Kritiker Cidananda Dasgupta die Calcutta Film Society, den ersten indischen Filmclub nach britischem Vorbild. Dadurch konnte er in kurzer Zeit die Klassiker des westeuropäischen und sowjetischen Kinos studieren, wobei es ihm der Neorealismus, wie so vielen seiner Generation, besonders angetan hatte. Auch die Begegnung mit Jean Renoir bei den Dreharbeiten zu "The River" (1951) erwies sich als folgenreich – wie man an "Pather Panchali" erkennen kann: Der über Zeiten und Kulturräume ausgreifende Humanismus dieses Debüts lässt sich gut in Einklang bringen mit Renoirs OEuvre sowie, allgemeiner, mit jener Form des Nachkriegsweltkinos, für die auch Namen wie Kurosawa Akira und Lester James Peries (in Sri Lanka) stehen – beides Giganten, denen sich Ray stets tief verbunden fühlte. Für den westlichen Betrachter weniger offensichtlich ist die lokale Bedeutung, die politische Dimension des Films: seine Verwurzelung sowohl in einer spezifisch bengalisch-bürgerlichen Tradition der Aufklärung wie auch des Nehru’schen nation building.

Umso faszinierender ist das Tempo, mit dem Ray sein Schaffen zu diversifizieren begann – und wie er dessen Vielgestaltigkeit zweimal ganz bewusst durch Episodenfilme betonte. Sein epochales Triptychon nach Rabindranath Tagore, "Teen Kanya" (Drei Töchter, 1961), und der "Doppelfilm" Der Feigling und der Heilige wurden allerdings oft gekürzt bzw. aufgeteilt gezeigt. Mit "Der Stein der Weisen" schuf er gleich zu Beginn ein Werk, dessen Verspielt- und Verschmitztheit völlig andere Wege beschreitet als "Pather Panchali". Ein Jahr später schlägt "Jalsaghar" (Das Musikzimmer, 1958) in seiner dunkel-morbiden Melancholie wiederum neue Töne an, und der hitzig-agitatorische Zug von "Devi" (Die Göttin, 1960) fügt dem OEuvre eine weitere starke Farbe hinzu. "Monihara", Teil 2 von "Teen Kanya", zeigt schließlich auch Rays Virtuosität im Horrorgenre.

1962 kommt mit "Kanchenjungha" nicht nur zum ersten Mal Farbe ins Spiel, sondern auch ein Blick auf das Bürgertum und seine Rituale, der in seiner grimmig-zerbrechlichen Unversöhnlichkeit eine neue Strömung in Rays Schaffen auslöst, wie die folgenden Meisterwerke "Mahanagar" (Die große Stadt, 1963) und "Charulata" (Die einsame Frau, 1964) aufs Schönste belegen. Man wird, was das Milieu und Rays Haltung zu den Figuren betrifft, gewisse Parallelen zwischen "Jalsaghar" und "Kanchenjungha" erkennen können, gleichwohl ist jeder Film ein ganz eigenes Abenteuer, der Anfang von etwas Neuem. Denn man darf nicht vergessen: Satyajit Ray schuf quasi im Alleingang und auf mehreren Linien ein bengalisch-indisches Kunstkino "westlicher" Prägung, an dem sich bis heute jeder indische Filmemacher orientiert, der der lokalen Unterhaltungsindustrie etwas Anderes abringen will – und sei es durch einen Aufbruch in eine wieder ganz neue Richtung.

Die Retrospektive findet in enger Partnerschaft mit der Academy of Motion Picture Arts & Sciences statt.

Satyajit Ray - Das Frühwerk
4. Dezember 2013 bis 8. Jänner 2014