Ozu Yasujirō. Das Gesamtwerk

Ozu Yasujirō ist stets aufs Neue eine Entdeckung – auch für jene, die sein Werk gut zu kennen meinen. Die Einfachheit und Alltäglichkeit seiner Sujets, die formvollendete Klarheit und Unverwechselbarkeit seines Stils suggerieren zunächst eine Art von Meisterschaft, die sich schnell umreißen lässt. Ozus Filme sind gendai-geki (in der Gegenwart angesiedelt) und einem großen Thema zugedacht: der japanischen Familie.

Auch ihre formale Strenge hat Markenzeichen-Charakter: feste, statische Kameraeinstellungen auf Augenhöhe einer sitzenden Person; konsequente Zurückweisung normierter Montage-Muster; "pillow shots" von leeren Schauplätzen zwischen den Szenen, um diese voneinander abzufedern und die Eindrücke einsinken zu lassen. Und schließlich gelten Ozu-Filme als kontemplativ: als extremer Ausdruck jener Reinheit und Abgeklärtheit, die im Westen vor allem mit "Zen", einer Kultur der Leere assoziiert wird. Ozu, "der japanischste aller Regisseure" wurde später als andere Meister seines Landes im Westen entdeckt; er war in Japan sehr renommiert und kommerziell erfolgreich, aber man befand sein Werk lange als ungeeignet für den Export.

Vieles davon trifft zweifellos zu – und greift doch zu kurz. Anderes ist eher unrichtig: So verwendet Ozu bis weit ins Spätwerk durchaus Kamerafahrten, wenn auch sehr pointiert. Beginnend mit Banshun (Später Frühling, 1949) findet er zu einer vollendeten Beschränkung der Mittel, um seinen Erzählungen den Anschein absoluter Natürlichkeit zu geben, obgleich er eigentlich eine einmalige Stilisierungskunst anwendet. Viele der späten Filme variieren zudem dieselbe Handlung – oft geht es um Väter, die ihre Töchter verheiraten wollen – und verwenden wiederkehrende Motive. Die Filme sind bis ins souverän kontrollierte Schauspiel geprägt von Gleichmut und Gleichmaß, "bestehen aus ruhig wachsenden, ruhig auslaufenden Wellen" (Harry Tomicek). In ihrer scheinbaren Ähnlichkeit legen sie das von Ozu selbst gern verwendete Bild des Meeres nahe: Wellen bis zum Horizont, die einander gleichen und von denen doch keine gleich ist – eine Metapher, die umso angemessener erscheint, als unter der Meeresoberfläche eine unerforschliche Tiefe liegt.

Selbst die späten Werke Ozus, die lange Zeit das Bild des Regisseurs definierten, überraschen bei jeder neuerlichen Betrachtung mit unerschöpflichen Nuancen und Gefühlslagen. (Dasselbe gilt für die Interieurs: Auf den ersten Blick gleichförmig, zeigen sich die sorgfältig arrangierten Requisiten manchmal schon nach ein, zwei Blickfolgen unauffällig in neuer Ordnung). Tatsächlich ist das "in sich ruhende" Spätwerk (1949–62) aber nur der kleinere Teil der Ozu-Filmografie. Die überlieferten Filme, die er zwischen 1929 und 1948 drehte, zeigen auf höchstem Niveau zwei andere Aspekte seines Genies. Erstens entwickelte er seine spezifische Sprache und viele seiner charakteristischen Motive als Teil einer Gruppe von Ausnahmetalenten (darunter Naruse, Shimizu, Gosho und Uchida), die um 1930 im Tanaka-Studio der Firma Shochiku eine atemberaubende Kino-Moderne einläuteten. Und zweitens lässt sich hier ein vielseitiger Genreregisseur entdecken, der mit sicherer Hand zwischen Nonsens-Komödien, Sozialdramen oder Gangsterfilmen wechselt.

Sichtbar wird in diesen frühen Meisterwerken auch der starke Einfluss des US-Kinos in Japan. Mehr noch als seine Kollegen war Ozu ein besessener Cinephiler und liebte von Kindheit an vor allem amerikanische Filme: Davon künden die vielen Verweise in seinem Schaffen, nicht zuletzt die Kinoplakate, die in seinen Arbeiten oft an Wänden hängen, aber auch die Stoffe von Dekigoro (Eine Laune, 1933, augenscheinlich inspiriert von King Vidors The Champ) oder Tōkyō monogatari (Die Reise nach Tokio, 1953, mit einem Nahverhältnis zu Leo McCareys Make Way for Tomorrow). Im "japanischsten aller Regisseure" lässt sich also auch der amerikanischste aller japanischen Regisseure entdecken. Diese Vorstellung passt gut zu seinem Selbstbild: Ähnlich wie die Größten unter seinen US-Kollegen – John Ford und Howard Hawks wären mögliche Pendants – arbeitete Ozu in einem kommerziellen System (und mit immer gleichen, bewährten Mitstreitern) an der Vervollkommnung einer persönlichen Handschrift. Dabei wies er jedes künstlerische Gehabe von sich; sein Handwerk verglich er mit dem eines Tofu-Herstellers.

So ist Ozu bei aller Raffinesse auch am besten als populärer Künstler zu begreifen. Man kann die Lesarten nachvollziehen, die ihn ob seiner verfeinerten, unmerklich radikalen Filmsprache als Avantgardist verstehen (wie David Bordwell) oder als Transzendentalist (wie Paul Schrader) angesichts seiner spirituellen Tiefgründigkeit. In Wahrheit aber vermittelt sich Ozus Größe auch ganz ohne intellektuellen Überbau, mit intuitiver Selbstverständlichkeit. Was er gefunden hat, ist die Kunst der absoluten Harmonie: Im Detailbau seiner Szenen und Sequenzen spiegelt sich die Form des ganzen Films und in gewisser Weise seines ganzen Schaffens (und darin wiederum eine allgemein verständliche Essenz des Kinos). Im Bild des Schälens einer Nashi-Frucht: ein ganzes Leben in all seiner Tragik und Schönheit (und darin wiederum die Essenz des Seins und Vergehens). Ozu stirbt nach schrecklichem Leiden an Krebs an seinem 60. Geburtstag, dem 12. Dezember 1963, empörend früh – aber er hinterlässt eine Unendlichkeit.

Ozu Yasujirō. Das Gesamtwerk
7. Jänner bis 7. Februar 2011