"Orlando" – Nach einem Roman von Virginia Woolf

Virginia Woolfs avantgardistischer Roman "Orlando" handelt von einem jungen adligen Menschen, der über Jahrhunderte lang lebte und dabei imstande war, das Geschlecht zu wechseln. Die von Tilda Swinton entwickelte gleichnamige Ausstellung zeigt die Werke zeitgenössischer Kunstschaffender und Fotograf:innen, welche die zentralen Themen der Geschichte Orlandos aufgreifen: Geschlechterfluidität, die Idee eines grenzenlosen Bewusstseins und die Perspektive endlosen Lebens.

Der Roman "Orlando" aus dem Jahr 1928 erzählt die Geschichte eines jungen adligen Menschen zur Zeit von Königin Elisabeth I., der – ohne je zu altern – Jahrhunderte lang lebte und dabei auf mysteriöse Weise imstande war, das Geschlecht zu wechseln. Im Jahr 1992 entwickelte die Filmemacherin Sally Potter eine mittlerweile zum Klassiker gewordene Adaption des Buches mit der Schauspielerin Tilda Swinton in der Hauptrolle. Nicht nur auf Swinton übt Woolfs Geschichte bis heute eine grosse Anziehungskraft aus.

Für das Magazin "Aperture" entwickelte Swinton als Gastredakteurin und Kuratorin eine Ausgabe sowie eine begleitende Ausstellung und greift dabei die zentralen Themen des Romans auf. Sie versammelt die Arbeiten elf Kunstschaffender – darunter etablierte zeitgenössische Positionen sowie zu entdeckende Fotograf:innen. Zusätzlich stellt die Ausstellung in einer vom Fotomuseum Winterthur entwickelten Einführung die Schriftstellerin Virginia Woolf und die Filmemacherin Sally Potter vor.

Die zum Teil eigens für die Ausstellung konzipierten Werke stellen vorherrschende Machtverhältnisse und -strukturen sowie heteronormative Vorstellungen und den weissen männlichen Blick in Frage. Sie setzen sich mit der Konstruktion von Identität(en) sowie der Repräsentation marginalisierter Communitys und alternativer Lebensentwürfe auseinander.

Die Arbeiten gehen dabei weit über Fragen des Geschlechts hinaus und feiern Kreativität, Offenheit, Neugier und die Vielfalt menschlicher Existenzen. Die Ausstellung knüpft somit an aktuelle gesellschaftspolitische Debatten an und gibt Einblick in unterschiedlichste künstlerische Herangehensweisen und Zugänge.

Über mehrere Jahre begleitete die Künstlerin und Modefotografin Collier Schorr Casil McArthur, dem bei Geburt das weibliche Geschlecht zugewiesen wurde, und der im Laufe ihres Projekts Untitled (Casil) transitionierte. Schorr lernte Casil gerade zu jenem Zeitpunkt kennen, als das sich heute als "männliche Prinzessin" bezeichnende Model begann, als junger Mann statt als junge Frau zu modeln. Beim Modeln, so Schorr, gehe es wie bei der Kunst und beim Film darum, Fantasien zu projizieren. Während sich ihre Fantasien auf unbestimmte Körper richten, gibt Casil seinem Körper durch kantige und launische Posen Raum. Er fühlte sich von der queeren Fotografin Schorr gesehen und erprobte seinen neuen Look vor der Kamera. Das Resultat ist eine Bildserie, welche die Grenzen von Geschlecht, Sexualität und Identität verwischt – mal verspielt, mal melancholisch.

Rosalyne Blumenstein, welche mit 16 Jahren transitionierte und später Direktorin des Gender Identity Project am Lesbian, Gay, Bisexual & Transgender Community Center in New York wurde, ist Muse und Mentorin für Zackary Drucker. Die in L.A. lebende Multimediakünstlerin inszenierte Blumenstein für ihre jüngste Bildserie als Vorbild, als Königin – und vor allem: als sie selbst. Beide, Drucker und Blumenstein, sind Ikonen, die viel für die Sichtbarkeit und Anerkennung von trans Personen in der Öffentlichkeit sowie für die Aufklärung und Organisation innerhalb der Community bewirkt haben.

Der Fotograf und Künstler Jamal Nxedlana ist fasziniert von den Schnittstellen zwischen Mode und Strassenkultur in Johannesburg. 2019 fotografierte er dort das Performance-Duo FAKA, Fela Gucci und Desire Marea, welches sich für die Sichtbarkeit Schwarzer, queerer Identitäten einsetzt. Für das Shooting stylte Nxedlana FAKA mit Kleidern, welche jegliche binäre Zuordnung verweigert und von ihm dadurch als "Widerstand gegen die gesellschaftlichen Vorstellungen von Geschlecht, race und Klasse" verstanden werden.

Lynn Hershman Leeson erforscht als Pionierin der Performance-, Video- und Multimediakunst die Zusammenhänge zwischen Technologie und Gesellschaft. 1973 begann Hershman Leeson eine mehrjährige Performance als Roberta Breitmore. Roberta, ihr fiktives Alter Ego, hatte eine Wohnung, fuhr mit Bussen, ging zu einem Psychiater und besass eine eigene Kreditkarte. Diese Verschmelzung von Realität und Fiktion, ist auch Thema ihrer Serie Hero Sandwich. Durch das Übereinanderlegen gegengeschlechtlicher Porträts, werden individuelle Identitäten durch künstliche Persönlichkeiten ersetzt und untergraben damit jegliche Form der Kategorisierung.

Für ihre von "Orlando" inspirierten Porträts greift die Malerin und Fotografin Mickalene Thomas auf die musenähnliche Beziehung zwischen Königin Elisabeth I. und Orlando sowie auf ikonische Gemälde des 19. Jahrhunderts zurück. In bunt ausgestatteten Sets und aristokratischen Kostümen stellen ihre Subjekte – ihre eigene Muse und Partnerin Racquel Chevremont und Performance-Künstler:in Zachary Tye Richardson – den männlichen Blick und Geschlechterverhältnisse in Frage. In Thomas’ Universum sind die Figuren, die in der westlichen Malerei, in der Bilderwelt des Pop oder im Kino historisch keine Wertschätzung erfuhren, eindringlich präsent.

Die Ausstellung zeigt die Arbeiten von Zackary Drucker, Lynn Hershman Leeson, Paul Mpagi Sepuya, Jamal Nxedlana, Elle Pérez, Walter Pfeiffer, Sally Potter, Viviane Sassen, Collier Schorr, Mickalene Thomas und Carmen Winant.

Orlando – Nach einem Roman von Virginia Woolf
kuratiert von Tilda Swinton
26. Februar bis 29. Mai 2022