Ora et labora

Franz Kafka betrachtete sein Schreiben in einer Notiz von 1920 "als eine Form des Gebets". Er hat viel geschrieben und mithin viel gebetet. Im Mittelpunkt der neuen Ausstellung, mit der die Mewo Kunsthalle ins sechste Jahr startet, stehen Künstler, für die die Variation des Kafka-Wortes gelten mag: Ihr Zeichnen oder Malen sehen sie nicht minder als eine Form des Gebets, ja sogar als eine mediale, aus dem Unbewussten gelenkte künstlerische Tätigkeit (es betet, wenn sie sprechen / zeichnen / malen). Diese Vorstellung ist uralt, und wenn in solch mystischem Vorgang geheimnisvolle Inhalte entstehen, so scheint das nur recht und billig.

Die von Joseph Kiermeier-Debre (Mewo Kunsthalle) konzipierte und kuratierte Ausstellung versucht einerseits dem Phänomen unbewusster Steuerung künstlerischer Schaffensprozesse nachzugehen und andererseits deren kryptische Ergebnisse zu präsentieren. Sie versammelt Arbeiten in Formen und Farben, die sich dem magischen, anagrammatisch erzeugten lateinischen Satz zu unterwerfen scheinen: "Rota Taro Orat Tora Ator" (Das Rad des Tarot kündet das Gesetz der Einweihung). Gruppiert um die verblüffenden medialen Arbeiten von Josef Madlener (1881-1967) gibt es in der Mewo Kunsthalle gut 20 zeitgenössische kubanische und russische "Tarot"-Zyklen in unterschiedlichen Techniken zu sehen (in der Regel besteht ein Tarot aus den sog. 22 Arkana, mithin also gut 300 Arbeiten). Darüberhinaus bietet das Haus eine repräsentative Auswahl aus den Arbeiten des Münchner Malers und Objektkünstlers Ugo Dossi (*1943), der sich seinerseits mit den Möglichkeiten des automatischen Zeichnens beschäftigt. Daneben werden seine Tarot- und Orakelbilder gezeigt. Kompletiert wird die Werkschau durch den Düsseldorfer Maler Robert Rotar (1926-1999), der seinen Künstlernamen zum Programm gemacht hat und der auf seine Art und Weise höchst meditativ, mit Konzentration auf Kreis und Spirale, das Terrain des Kosmos auszuloten versuchte.

Spirituelles Geschehen in einem aus den Traditionen der Astrologie, der Alchemie, der Kabbala oder der Theosophie gespeisten Akt in ein mediales Ergebnis zu konzentrieren, ist eine Seite des Vorgangs und fordert unser philosophisches, symbolisches und kunsttheoretisches Vermögen heraus. Es ist ästhetisches Werk, Artefakt, es ist Kunstwerk geworden. Dass das Rad des Tarot zu wie auch immer gearteten Aussagen über die Zukunft, über unsere Stern- und Schicksalskonstellationen oder als Initiationsweg etc. benutzt wird, ist die andere, aber für die künstlerisch-kritische Betrachtung eher nebensächliche Seite der Angelegenheit. Die Ausstellung wird auch – wie es beliebt! – diesen Interessen reiches Anschauungsmaterial bieten, aber in ihrem Zentrum stehen vorrangig die ästhetisch überzeugenden Ergebnisse spielerisch-künstlerischen Umgangs mit den Möglichkeiten, die der Zufall aus den Tiefen des Unbewussten ans helle Licht des Bewusstseins hebt. Und wie immer bei den Ausstellungen der Mewo Kunsthalle wird der Lichthof als ein spannendes Entree in die einzelnen Gebetsabteilungen der ästhetischen Kirche gestaltet sein, für die Schillers berühmter Satz gilt: "Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst."

Auch sie betet, wenn auch etwas anders: Roswitha Asche, die in Berlin geborene und in Kassel und Frankfurt ausgebildete Zeichnerin und passionierte Dokumentaristin. Parallel zur neuen Ausstellung der Mewo Kunsthalle wird im Grafikkabinett eine Sonderausstellung mit ihren Arbeiten unter dem Titel "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" eröffnet. Roswitha Asche betet, sprich, sie vermaß in hoher Exaktheit eine Welt auf ihre Künstlerweise, indem sie sich zeichnend und malend ihrer Erscheinungen annahm; zumeist sind ihre Spuren danach lautlos verschwunden. Hingebungsvoll hat sich ihr Zeichenstift vor allem der bäuerlichen Lebensweise und Lebenswelt Südtirols gewidmet, einer untergegangenen Epoche von stiller, schlichter Größe und Einfachheit.

Die Kunstfertigkeit aber, mit der Roswitha Asche sie poetisch souverän dokumentierte, mit der sie ihr Verschwinden festhielt, ist ein großes künstlerisches Vermächtnis, in dem der Begriff "Vergänglichkeit" seine Offenbarung erhält. Genauigkeit und Exaktheit sind dabei nicht als Gegensätze zu "poetisch" zu verstehen, sondern als eine Grundbedingung für den Zauber ihrer Arbeiten. Was auch immer dieser Welt notwenig und nützlich war, hat sie liebvoll mit virtuoser Hand festgehalten: Geschirr und Gläser, Werkzeuge und das, was der Garten hervorbringt, was das Haus innen ziert und schmückt und was Hof und Stall nach außen zu einem Ereignis von praktischer Schönheit macht. Viele tausend Blätter, von denen die Kabinettausstellung eine repräsentative Auswahl bietet, sind im Laufe intensiver Jahre entstanden, die zusammen ein imaginäres Bauernhofmuseum von stattlicher Größe darstellen, in dem nicht das Unbewusste, sondern hohes Bewusstsein des Wirklichen Ereignis wird.

Orat = er, sie, es spricht / betet / zeichnet / malt
17. Oktober 2010 bis 30. Januar 2011