Nahsichten aus Cannes - 1. Teil

19. Mai 2013
Bildteil

Regengüsse und kalte Böen zur Eröffnung erschwerten den Stars den glamourösen Auftritt: Die in sommerlichen Abendroben angetretenen Berühmtheiten mussten einiges aushalten bei ihrem Fotoshooting auf den roten Stufen – und sich mit Schirmen vor dem selbst unters Dach der Teppichstrecke vordringenden Tropfen schützen. Dem Glitzer-und-Glimmer-Auftakt mit "The Great Gatsby" folgen nun die Teilnehmer des Wettbewerbs, der weit weniger fulminant startete und sich wie das Wetter zu entwickeln droht: sehr durchzogen, mit bislang wenigen Aufhellungen. - Aus Cannes berichtet Doris Senn.

Zuerst einmal katapultierte die Wettbewerbsauswahl uns in die Prekarietät und die Abgründe menschlicher Existenz. So mit "Heli", dem dritten Film des mexikanisch-amerikanischen Filmemachers Amat Escalante. Er erzählt darin von einer Familie in der mexikanischen Wüstenpampa, die in den Strudel der Drogenmafia gerät: Heli mit seinem Vater, mit Frau und Kind und der kleinen Schwester Estela.

Als deren älterer Freund Beto zwei Päckchen Heroin bei Helis Familie versteckt, um sie später zu verkaufen und mit seiner kleinen Freundin durchzubrennen, beschwört er das tödliche Drama herauf: Die Polizei taucht auf – wobei unklar ist, ob als amtliches Organ oder als mafiose Instanz – und bringt einen infernalischen Rachefeldzug ins Rollen, bei dem erst Helis Vater erschossen wird, dann Heli und Beto zu Folterknechten gebracht werden und Estela von den Polizisten entführt und missbraucht wird.

Der Film, der durchaus seine Qualitäten hat mit einer großartigen Kamera und seiner lakonischen Erzählart, ließ aber wegen seiner exzessiven und in extenso erzählten Gewaltakte mehrmals ein Raunen durch den Zuschauerraum gehen und wird nicht zuletzt deshalb Mühe haben, sein Publikum in den Kinosälen zu finden.

Mit Gewaltexzessen forderte auch der chinesische Regisseur Jia Zhangke das Publikum. In seinem "Touch of Sin" erzählt er in vier Episoden aus vier Regionen Chinas über ebenso viele Charaktere: einen Minenarbeiter, der aus Frust über den korrupten Dorfchef und den geldgierigen Minendirektor einen Amoklauf startet, einen Wanderarbeiter, der zum brutalen Raubmörder wird, eine Sauna-Empfangsdame, die einen übergriffigen Gast ersticht, und schliesslich einen jungen Erwachsenen, der sich aus Verzweiflung das Leben nimmt.

Der insgesamt zu lang geratene Episodenfilm verbindet auf eher skurrile Weise das Sozialdrama – und die Kritik an den gesellschaftlichen Ereignissen im großen Land – mit den in China beliebten Wuxia-Filmen: einem Genre der "ritterlichen Kampfkunst", das eher billigen Gewaltvideos und Splattermovies nahekommt.

In vier Episoden ist auch "Jeune et jolie" unterteilt, François Ozons 14. Film. Ozon liebt es, seine Filme einer Struktur zu unterwerfen: Hier sind es die vier Jahreszeiten im 17. Lebensjahr von Isabelle – Sommer, Herbst, Winter und Frühling, je begleitet von einem Chanson von Françoise Hardy. "Jeune et jolie" – erst die zweite Teilnahme Ozons im Cannes-Wettbewerb und sicher nicht sein stärkstes Werk – erzählt eine Mischung aus "Lolita", "Belle de Jour" und den Sommerkomödien Rohmers (ein großer Lehrmeister Ozons!).

Isabelle (mit dem Starmodel Marine Vacth in der Hauptrolle) lotet darin ihr sexuelles Erwachen aus zwischen dem "ersten Mal" und ihren Erfahrungen als junges Studentinnen-Callgirl – bis letzteres ans Licht kommt: ein Donnerschlag in der bourgeoisen Familie und ihrem scheinbar so liberalen Milieu (aus dem auch Isabelles Kunden stammen).

Mit fasziniertem, aber unterkühltem Blick beschreibt Ozon die junge schöne Frau und ihre eigenwillige Wahl: Sex, Liebe, Geld – nichts von alledem scheint sie zu interessieren, und so bleibt uns auch irgendwie verborgen, woher der Ansporn für ihre Handlungen kommt – welche sie, wie der Filmschluss suggeriert, keineswegs aufzugeben gedenkt …

Ähnlich enttäuschend ist der japanische Beitrag "Like Father, Like Son" von Hirokazu Kore-Eda, der bereits zum dritten Mal am Wettbewerb teilnimmt. Formal glatt und unspektakulär, dreht sich der Film um ein hübsches Thema, das einiges über die gesellschaftliche Situation im leistungsorientierten Japan aussagen könnte: Nach sechs Jahren merkt ein Provinzkrankenhaus, dass zwei Babys vertauscht wurden. Dabei geht es um ein bourgeoises Paar und recht eigentliche "Tiger-Eltern", die das Baby – das sich nun als Kuckucksei herausstellt –, schon in den Windeln zu fördern suchten und nun sich mit einer denkbar gegensätzlichen, wenn auch durchaus sympathischen Familie mit wenig Geld konfrontiert sieht, die den "eigenen" Sohn aufgezogen hat. Doch die Dramaturgie lahmt, reiht noch eine Erzählschlaufe hinzu, noch einen Besuch zwischen den Eltern und noch einen Ausreisser der schliesßlich ausgetauschten Söhne – um schließlich nicht allzu überraschend und etwas didaktisch auf das Fazit hinzusteuern, dass Zeit allein sowohl den guten Vater als auch die eigentlichen Eltern ausmache.

Ein erster valabler Palmen-Anwärter präsentierte sich dennoch schon, und zwar mit Asghar Farhadi, der – zum ersten Mal in Cannes – im letzten Jahr in unseren Kinos mit seinem "The Separation" begeisterte, und nun ein neues Drama mit ähnlich komplexer und einnehmender Struktur realisierte: "Le passé" erzählt von Ahmad, der nach vier Jahren im Iran in einen Vorort von Paris zurückkehrt, um sich von seiner französischen Frau Marie scheiden zu lassen. Diese lebt mit ihren zwei Töchtern. Ihr neuer Freund, von dem sie seit zwei Monaten schwanger ist, und dessen kleiner Sohn sind soeben zu ihr gezogen.

Auf diese komplexe Patchworkfamilie trifft nun Ahmad, der sich noch nicht ganz aus seiner Beziehung zu Marie gelöst zu haben scheint. Wie schon in seinem vorhergehenden Film entwickelt sich der anfänglich scheinbar überschaubare Plot von "Le passée" zu einem spannenden mäandernden Gebilde, in dem immer neue Fakten ans Tageslicht kommen und wir mit den Figuren auf immer neue, überraschende Bahnen gelenkt werden. Farhadis Geschick im Geschichtenerzählen – mit einem hervorragenden Schauspieler/innenset – ist ebenso eigenwillig wie packend.

Und noch ein Letztes zu einem mit Spannung erwarteten Titel: der Eröffnungsfilm der offiziellen Nebensektion von Cannes, "Un Certain Regard". Sofia Coppola ("Lost in Translation") übernahm diese ehrenvolle Aufgabe mit "The Bling Ring" – eine auf tatsächlichen Fakten und einem Zeitungsartikel basierende Geschichte über ein dreistes Grüppchen Hipsters in Hollywood, welche in die teils unverschlossenen und scheinbar unbewachten Villen der Schönen und Reichen eindrangen und sich dort in deren Garderobenschränken, an Schuhen, Täschchen und Klunkern gütlich taten.

Der Film nun – der zumindest an einem Originalschauplatz gedreht werden konnte, nämlich in der Villa von Paris Hilton, die nicht weniger als fünfmal(!) von der frivolen Gang ausgeraubt wurde – hat leider nicht mehr Tiefgang als ein Feature für einen Drittklassfernsehsender: Es gibt keine eigentliche Entwicklung weder der Figuren noch der Handlung – dafür Einbrüche in der Endlosschlaufe und Emma Watson in ihrer ersten Nach-"Harry Potter"-Rolle: als lasziv-verführerische Nicky und Mitglied der Bling-Bling-Gang. Doris Senn