Material Memories - Bedeutungen in Materie einschreiben

Die Ausstellung "Material Memories" zeigt Werke aus der Sammlung des Migros Museum für Gegenwartskunst. Das erste Kapitel der Sammlungsausstellung vereint künstlerische Positionen aus verschiedenen Generationen und geografischen Kontexten: gemein ist ihnen jedoch der Umgang mit unbeschriebener Materie, in die sie ihre eigenen Bedeutungen einschreiben.

"Die Bilder (…) waren gezeichnet von Wasser, Schlamm und Blättern. Der Wendepunkt war, als ich akzeptierte, dass meine Bilder nicht zerstört, sondern verändert wurden." Mit diesen Worten beschreibt die Künstlerin Vivian Suter die Folgen einer Überschwemmung ihres Ateliers. Eben diese Vorstellung von Material als Spurenträger und Erinnerungsspeicher dient als Ausgangspunkt dieser Ausstellung: Sie nähert sich den ausgewählten Sammlungswerken über deren materielle Beschaffenheit an und beschäftigt sich damit, wie Material mit Bedeutung aufgeladen wird und wie rohe Werkstoffe zu Kunst werden können.

Physische Materie ist die Grundvoraussetzung jedes objektbasierten Kunstwerks. Seit den 1960er Jahren greifen Kunstschaffende ganz selbstverständlich auf nicht beständige oder organische Materialien zurück, arbeiten mit Werkstoffen aus der Industrie oder integrieren gefundene Objekte in ihre Arbeiten. Diese Materialien werden in einem künstlerischen Bearbeitungsprozess zusammengeführt, kombiniert, geformt, verändert, eingefärbt, verflüssigt oder verfestigt – so lange, bis sie eine nach Ermessen der Künstler:innen fertige Form erreicht haben. Das erste Kapitel der Sammlungsausstellung setzt sich damit auseinander, wie Bedeutung dem Material durch den künstlerischen Schaffensprozess – tatsächlich oder symbolisch – eingeschrieben wird: Es kann sich dabei um Bearbeitungsspuren handeln oder um Überreste, die von einer performativen Handlung zeugen. In manchen Fällen speichert das Material auch Abdrücke, die durch unkontrollierbare Faktoren zustande kommen, aber zugelassen und somit Teil des Werkes werden. In anderen Fällen wird ein Material oder ein Objekt durch eine Aktion mit neuer Bedeutung aufgeladen oder die alte wird überschrieben.

Schlüsselwerk der beiden Kapitel ist Heidi Buchers Hautraum (Ricks Kinderzimmer, Lindgut Winterthur (1987)). Es handelt sich um die Latex-Häutung eines Zimmers aus einer historischen Villa im Massstab 1:1. Die aufgetragenen Kautschukschichten werden in einem performativen Akt von den Wänden abgezogen und gelangen so zu neuer Bedeutung. Buchers Verfahren ist mit einer Häutung zu vergleichen, bei der sich – gelesen als Geste der Befreiung – die äusserste Schicht vom "Alten" ablöst. Die Vergangenheit ist fortan nur noch durch die sichtbaren Abdrücke in das Material eingeschrieben; die nach der Häutung verbleibende Hülle ist Trägerin von Erinnerungen, von denen sich die Künstlerin emanzipiert hat.

In Yael Davids’ Arbeit "Vanishing Point" (2020), einer schwarzen Stoffbahn, die den gesamten hinteren Ausstellungsraum durchteilt, kommt dem Entfernen von Material eine zentrale Funktion zu. In minutiöser Handarbeit wurden mittig die horizontal verlaufenden Fäden aus dem gewobenen Textil entfernt: Nicht das Weben erschafft Neues, sondern das "Ent-Weben". Die Leerstelle ermöglicht neue Blickwinkel im Raum und Bedeutung entsteht durch das Spiel mit dem Verschleiern und Enthüllen von Perspektiven.

Vivian Suter lässt externe Faktoren Teil ihrer Werke werden. Die Künstlerin setzt ihre Leinwände nach dem Malen oft gezielt der Witterung aus: Sie liegen auf dem Boden oder hängen an Bäumen, wo Staub, Schlamm oder Laub Spuren hinterlassen. Somit verweist ihre Malerei auf die organischen und durch Zufall bestimmten Prozesse, die Suters Lebens- und Arbeitsumfeld an einem abgeschiedenen Ort im tropischen Klima Guatemalas prägen.

Graciela Gutiérrez Marx schnitt ein Stück Stoff aus der Arbeitsschürze ihrer Mutter und verschickte es per Post an ihr sozialpolitisch engagiertes Mail Art-Netzwerk – zu Zeiten des militärdiktatorischen Regimes in Argentinien (1976–1983), das freie Bewegung nahezu unmöglich machte. Die fotografische Collage "Material Metamorphosis" (1982/2013) dokumentiert die Verwandlung der Schürze vom häuslichen Alltagsobjekt in ein mit Bedeutung aufgeladenes Objekt, das nun für das Überwinden von Grenzen und eine miteinander kommunizierende Gemeinschaft steht.

Material Memories
Sammlung Migros Museum für Gegenwartskunst
Bis 20. Mai 2024