Lucia Marcucci: Die Offensive

Im Rahmen der Ausstellung "L’Offesa" (Die Offensive) wirft die Ar/Ge Kunst in Bozen einen neuen Blick auf mehrere seit den 1960er-Jahren entstandenen Werke der Künstlerin Lucia Marcucci (*1933, Florenz), die sich mit verbo-visuellen Aspekten der auditiven Poesie, der Kinopoesie und nicht-linearer Montagetechniken auseinandersetzen. In diesem Zusammenhang werden auch die Beiträge einiger Stimmen der Gegenwart vorgestellt (Wissal Houbabi, Elena Biserna und Annamaria Ajmone mit Laura Agnusdei).

Im Jahr 1964 gestaltete Lucia Marcucci auf Karton die Collage "Il fidanzato in fuga". Darauf dargestellt sind drei aufrecht stehende Raumanzüge, die aufgehängt sind wie Marionetten, aber ohne Körper. Collagiert ist zu lesen: "Paradiso extraterrestre della donna, il fidanzato in fuga nello spazio" (Das außerirdische Paradies der Frau, der Verlobte auf der Flucht ins All). Ein so ironischer wie provokanter Satz, der die Befindlichkeit der zeitgenössischen Frau spiegelt und ihren Anspruch auf Freiheit und Überschreitung in einer Gesellschaft betont, die besessen war von Wissenschaft, Technologie und Fortschritt und sich zur damaligen Zeit in einem kontinuierlichen Aufstieg hin zur „Eroberung“ des Weltraums wähnte.

Im darauffolgenden Jahr hängte die Künstlerin – als Teil des Gruppo ’70 – zusammen mit Eugenio Miccini, Lamberto Pignotti und Antonio Bueno Plakate auf, nur um sie anschließend zu zerreißen, so geschehen etwa mit der Arbeit "L’Offesa" im Zuge ihrer gemeinsam aufgeführten Poesie-Spektakel "Poesie e no" (1964–1967). Dabei handelte es sich um eine Reihe multimedialer Happenings unter Einbeziehung von Gedichten sowie Matrixmaterialien außerliterarischer Herkunft.

Im Rahmen dieser Veranstaltungen, allen voran "Poesie e no 3" (1965), verbanden sich verschiedene Formen von Sprache: das Vorlesen von Gedichten, Zeitungskolumnen, Slogans und Romanauszügen mit der Vorführung experimenteller Filme und weiteren ebenso flüchtigen wie vergänglichen Aktionen zur Musikbegleitung Giuseppe Chiaris. Dies alles fügte sich zu einer kubistischen Collage, bestehend aus Wörtern und Rezitationen, Ausschnitten, Fragmenten, Schnipseln und Überbleibseln, die sich von einer linearen Konstruktion der Inhalte entfernen.

Lucia Marcuccis Werk zeichnet sich durch eine Umkehrung des poetischen Wortes aus, die auch Eingang in die feministischen Kämpfe der 1960er-Jahren fand. Wenn die Künstlerin davon spricht, "das Lexikon an den Absender zurückzusenden", so bedeutet das, über einen ironischen und kritischen Gebrauch von Sprache eine Befreiung von Geschlechterstereotypen, von Annahmen über die Darstellung des weiblichen Körpers ebenso wie von aufoktroyierten Praktiken und Gewohnheiten der kapitalistischen Gesellschaft zu erreichen.

Marcucci bringt das Wort wieder auf Straßen und Plätze, in Leben und Orte, an denen Zivilbürgerschaft stattfindet, und mit ihr der Körper.

Anlässlich des 90. Geburtstags der Künstlerin zeigt die Ar/Ge Kunst in der Ausstellung "L’Offesa" mehrere Werke Marcuccis aus den 1960er- bis 1990er-Jahren, die von ihrem Archiv sowie der Galerie Frittelli Arte Contemporanea (Florenz) als Leihgaben zu Verfügung gestellt wurden. Die Schau stellt vor Augen, wie Sprache, Werbung, Medien und Papier in den 1960er- und 1970er-Jahren von einer militanten Praxis auf den Prüfstand gestellt wurden, die auf verbale und physische Gegenwart setzte.

Darüber hinaus unternimmt die Ausstellung eine kritische Reflexion aus aktueller Warte, indem sie einige Werke Lucia Marcuccis in einen Dialog mit den Stimmen anderer Künstler*innen stellt. So bringt etwa Wissal Houbabi eine audiovisuelle Installation in den Raum des Dissenses und der antirassistischen Kämpfe unserer heutigen Gesellschaft ein; Elena Biserna erkundet mithilfe der Partituren "The Resounding Flâneuse" und dem Spaziergang Feminist Steps (9./10. Juni 2023, Bozen) die (Hör-)Erfahrungen der nächtlichen Stadt aus einer geschlechtsbezogenen Perspektive; und im Rahmen von Bolzano Danza zeigen die Tänzerin Annamaria Ajmone und die Musikerin Laura Agnusdei die Geste und Klang verbindende Partitur Bleah!!! (20./21. Juli 2023, Kapuzinerpark, Bozen), die mit Assemblagen und dem Durchbrechen zeitlicher, räumlicher wie auktorialer Zusammenhänge arbeitet.

Aus diesem Anlass veröffentlicht die Ar/Ge Kunst auch einige bislang unveröffentlichte Texte Lucia Marcuccis in der Publikationsreihe Novellas.

Die Ausstellung in der Ar/Ge Kunst wird ergänzt durch die von Frida Carazzato kuratierte Schau Lucia Marcucci. "Poesie e no" im Museion in Bozen. Beide Einzelpräsentationen kreisen um Erfahrungen, die zur Entstehung des Happenings Poesie e no geführt haben. Die mehrfach aufgeführte Performance zeichnet sich durch eine collageartige Nebeneinanderstellung visueller und sprachlicher Zeichen aus und wird für beide Einrichtungen zum Ausgangspunkt, um jeweils komplementäre Stränge von Marcuccis Œuvre zu beleuchten: So findet die in einer Kritik an der Konsumgesellschaft wurzelnde Untersuchung von Sprache ihren Raum im Museion, während die Gegenwart von Wort und Körper im Aktivismus eine Re-Lektüre auch durch zeitgenössische Stimmen in der Ar/Ge Kunst erfährt.

Lucia Marcucci: L’Offesa
AR/GE Kunst, Bozen
Kuratiert von Francesca Verga und Zasha Colah
Bis 29.07.2023
Di-Fr 10–13 u. 15–19
Sa 10–13
www.argekunst.it