"Long Walk" – Eine Ankunft nach 307 Jahren

5. Dezember 2012 Rosemarie Schmitt
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Francesco Tristano liebt die Musik Johann Sebastian Bachs und sagt, ohne Dietrich Buxtehude wäre Bachs Musik eine andere. Nicht anders hingegen als auch heute, wollten schon immer die Fans ihren Idolen nahe sein, ihre Konzerte besuchen und am liebsten freilich an deren Leben teil haben. So auch der damals 20 jährige Johann Sebastian, der seinem Idol Dietrich Buxtehude einen Besuch in Lübeck abstattete. Zu Fuß! Schlappe 380 Kilometer, und wahrscheinlich nicht in "Stirkenbocks" oder sonstigem Schuhwerk mit bequemer Einlage, wasserdichter Membrane, perfektem Abrollwiderstand oder gar idealer Torsionssteifffigkeit. Der Titel des neuen Albums von Franceso Tristano "Long Walk" (Universal) kommt also nicht von ungefähr.

Ein paar Wochen wollte Bach bleiben, damit sich der sehr weite Weg auch lohne, und Orgelkonzerte von Buxtehude in der Marienkirche besuchen. Er blieb einige Monate, und wie sehr sich dieser Weg lohnte, kann man in den Kompositionen Bachs hören. Zwei Jahre nach Bachs Reise, im Jahre 1707, starb Dietrich Buxtehude. Sein musikalisches Erbe wurde von dem jungen Johann Sebastian Bach nicht nur geschätzt und weiterentwickelt, sondern trug darüber hinaus dazu bei, daß aus Johann Sebastian Bach einer der größten Komponisten aller Zeit wurde.

Was ich von Buxtehude bisher kannte, waren Orgel- und sakrale Vokalwerke. Ich höre weder das Eine noch das Andere besonders gerne, egal von welchem Komponisten (ausgenommen Sakrales von Händel). So ging ich also recht skeptisch ans Werk als ich Tristanos CD in Händen hielt und die Titelauflistung las: I bis V Buxtehude, VI und VIII Bach, VII und IX Tristano. Bereits nach den ersten Takten der Toccata (BuxWV 165 - nein, das Bux-Werkverzeichnis beinhaltet keine Auflistung darüber, wann der Komponist welches Beinkleid trug!), also bereits nach den ersten Takten sagte ich mir, daß der Junge (Tristano) definitiv nicht übertreibt, wenn er behauptet: "Ich bin immer für die schönsten Überraschungen bereit, und das ist auch mein Ziel, das Publikum zu überraschen"". Und nun begreife ich auch zum ersten Male, weshalb Bach von Buxtehudes Kompositionen derart begeistert und angetan war! Es folgten 36 Minuten pures Staunen und Genuß!

Nein, kein Staunen über die traumhafte Brillanz, die Klarheit, diese Leichtig- und Geläufigkeit mit der Francesco Tristano spielt, denn damit faszinierte er mich bereits, als ich sein vorheriges Album "bachCage" hörte, es ist seine Art, sowohl Buxtehude und Bach zusammen und gleichzeitig sich selbst einzubringen. Es verblüfft und verzaubert mich, wie Tristano es schafft, diesen Komponisten ein Leben im Hier und Jetzt einzuhauchen (obschon von Hauchen nicht die Rede sein dürfte), und dabei nicht ansatzweise eines dieser unsäglichen "Cross-Over-Projekte" heraus kam. Wenn Buxtehude wüßte, welch genialer Komponist Bach, nicht zuletzt durch seinen Einfluß wurde... und wenn Bach wüsste... Ja, wenn der große Johann Sebastian nur Franceso Tristanos "Long Walk" hören könnte, - hören könnte, daß sein Einfluß wiederum, einen so wundervollen Komponisten wie den jungen Franceso Tristano hervor brachte, ach, was wäre er begeistert! Ich weiß, das ist eine reine Hypothese, doch ich bin von ihr überzeugt.

"Long Walk" ist für mich das unterhaltsamste, wunderbarste, überzeugendste, amüsanteste Stück auf dieser CD. Bitte, sind Sie mir nicht böse verehrter Herr Buxtehude und genialer Herr Bach, aber das müßten Sie sich nur mal anhören können, ich bin sicher, Sie verständen! Vielleicht, hätten Sie zu Ihrer Zeit die Möglichkeit gehabt 12 Mikrofone verschiedener technischer Charakteristika (einschließlich zweier Kontaktmikrofone) zu verwenden, und hätten Sie dieses geniale Yamaha CFX (nein, kein Motorrad, sondern ein experimentelles High-Tech-Klavier) gehabt, hätten Ihre Kompositionen wahrscheinlich auch so geklungen, wie die des Francesco Tristano. Es scheint, als seien Bachs Klangbilder, die Buxtehude ihm vermittelte, nach 307 Jahren im Hier und Jetzt angekommen – a long walk! Ich bin gespannt, wo Tristanos Reise noch hin geht und freue mich auf weitere seiner Überraschungen, sei es als Pianist, Produzent oder als Komponist.