Locarno 2013: Täuschung und Wahrheit

Während sich der Rumäne Corneliu Porumboiu im Wettbewerb des 66. Filmfestivals von Locarno in "When Evening Falls on Bucharest or Metabolism" mit Wahrheit, Wahrnehmung und Täuschung im Kino auseinandersetzte, legte Sam Garbarski auf der Piazza "Vijay and I" eine - zumindest in der ersten Hälfte - äußerst charmante Komödie über einen Identitätswechsel vor.

Maximal elf Minuten könne eine Einstellung in einem 35mm-Film dauern, erklärt der Regisseur seiner Hauptdarstellerin in der ersten Einstellung von "When Evening Falls on Bucharest or Metabolism". Und so dauert diese vom Rücksitz eines Autos während einer nächtlichen Fahrt durch Bukarest gefilmte Einstellung auch diese elf Minuten. Starr bleibt die Kamera, nur von hinten sieht man die über das Kino und dessen Zukunft Sprechenden.

Noch 15 weitere solche Plansequenzen, jede im Schnitt fünfeinhalb Minuten lang, werden folgen, beinahe jede Szene wird aus einer einzigen statischen Einstellung bestehen, Musik wird erst im Nachspann einsetzen. In Echtzeit wird so erzählt, scheinbar ungefiltert Wirklichkeit eingefangen und doch wird klar, weil dies auch thematisiert wird, dass der Blick des Zuschauers gelenkt wird, indem der Regisseur einen bestimmten Bildausschnitt wählt.

Nicht von ungefähr wird in einem Gespräch die Rede auf Antonionis "Blow Up" kommen, denn wie der italienische Meisterregisseur wirft auch Corneliu Porumboiu Fragen nach dem Wahrheitsgehalt des Kinos, nach Wirklichkeit und Täuschung und nach unserer Wahrnehmung auf. Manipulation scheint allgegenwärtig, denn auch die Magenendoskopie, die der Regisseur vorlegt, könnte durchaus eine Fälschung sein. Formal ist das mit großer Konsequenz inszeniert, vom Zuschauer verlangt der Film freilich auch Geduld, denn Porumboiu verzichtet in seinem distanziert beobachtenden Gestus bewusst auf jede dramatische Zuspitzung.

Setzt sich der Rumäne mit Wahrheit und Manipulation auseinander, so entwickelt Sam Garbarski in "Vijay and I" gerade aus einer Täuschung eine - zumindest in der ersten Hälfte - hinreißende Komödie. Charmant ist schon der animierte Vorspann, in dem teilweise in Schwarzweiß, teilweise mit Farbtupfern angereichert ein Mann zu verschiedenen Jahreszeiten durch New York stolpert. Dass der Zuschauer schon hier verzaubert wird, liegt zu einem nicht unbeträchtlichen Teil auch am melancholischen Jazz, der dieser Eröffnung unterlegt ist.

Hinreißend, temporeich und sichtlich mit Liebe gemacht geht es auch weiter, wenn der TV-Schauspieler Will Wilder – unübersehbar will Garbarski an die Komödien Billy Wilders anknüpfen - am Freitag, den 13. erwacht, im Studio wieder einmal sein grünes "Pechkaninchen" spielt und glaubt, dass alle seinen 40. Geburtstag vergessen haben, nicht ahnend, dass seine Tochter eine Überraschungsparty vorbereitet.

Enttäuscht und verärgert will Will deshalb gar nicht nach Hause und übernachtet, als ihm sein Wagen geklaut wird, bei einem befreundeten indischen Restaurantbesitzer. Als er am nächsten Morgen aus den Nachrichten erfährt, dass er bei einem Autounfall ums Leben gekommen und völlig verbrannt sei, klärt Will das Missverständnis nicht auf, sondern will verkleidet als Inder Vijay seine eigene Beerdigung besuchen und beginnt in dieser Verkleidung bald eine Beziehung mit der vermeintlichen Witwe.

Akzeptieren muss man zwar die Ausgangssituation, dass Will trotz nur geringfügiger Verkleidung von niemandem erkannt wird, dann aber erlebt man eine höchst liebenswerte erste Filmhälfte. Garbarksi versteht sich auf die Zeichnung treffender, und mit Stars wie Hannah Schygulla und Michael Gwisdek in Kleinstrollen auch trefflich besetzten Typen und entwickelt aus dem Identitätswechsel großen Witz.

Einen ganzen Spielfilm tragen kann die Idee, dass jemand in Verkleidung unerkannt beobachten will, wie er von anderen wahrgenommen wird, dann aber doch nicht. Denn wenn sich Moritz Bleibtreu als Inder Vijay und Patricia Arquette einmal näher gekommen sind, fällt Garbarski nicht mehr allzu viel ein. Schleppend und mit zu wenig Witz entwickelt sich so in der zweiten Hälfte die Handlung, bietet kaum mehr pfiffige Wendungen und Überraschungen. - Gerade angesichts der so liebenswerten ersten Hälfte fällt das doppelt ins Gewicht.