Locarno 2012: Von klassisch bis experimentell

Die Jury des Wettbewerbs des 65. Filmfestivals von Locarno ist um ihre Aufgabe nicht zu beneiden: Die Filme sind so unterschiedlich, dass sie kaum miteinander zu vergleichen sind. Der Bogen spannt sich von einem Experimentalfilm wie "Leviathan" bis zu einem klassisch erzählten US-Indie-Movie wie "Starlet". - Man darf gespannt sein, wer heute abend mit den Leoparden ausgezeichnet wird.

Wie soll man eine konventionell erzählte Geschichte wie "Une estonienne à Paris" mit einem experimentellen Dokumentarfilm wie Lucien Castaing-Taylors und Véréna Paravels "Leviathan" vergleichen. Hautnah ist die Kamera in "Leviathan" auf dem Fischkutter an Seefahrern, Schiff und Fischen. Nie bekommt man einen Überblick, vielmehr ist der Film ein Fluss aus Farbfetzen, Licht und Geräuschen.

Da taucht die Kamera ins Wasser, rasseln die Ketten der Netze, schlingert das Schiff, kreischen weiße Möwen vor schwarzem Himmel, leuchten die gelben und roten Arbeitsanzüge der Fischer, wird das Netz entleert, die Fische und dann die Schalentiere ausgenommen und die Abfälle wieder blutrot ins Meer entleert. Und als Zuschauer ist man mitten drin.

Einen ungemeinen Sog entwickelt "Leviathan", lässt den Zuschauer selbst seekrank werden, und doch ermüdet dieser wort- und atemlose Strom der Bildfetzen auf Dauer, wirkt über gut 80 Minuten, in deren Verlauf wieder der Kreis zum Anfang geschlossen wird, redundant.

Man bekommt zwar ein Gefühl dafür, wie hier Mensch, Maschine und Natur aufeinander prallen, doch mit einem Dokumentarfilm, der Einblick in Realitäten vermittelt, hat "Leviathan" nichts zu tun, ist vielmehr ein immer wieder zum Abstrakten tendierender Experimentalfilm, eine teilweise ungemein intensive sinnliche Erfahrung.

Das was "Leviathan" freilich mit vielen anderen Filmen im heurigen Wettbewerb des Filmfestivals von Locarno verbindet, ist die Arbeit mit dokumentarischem Material. Das fand sich daneben nicht nur in "Der Glanz des Tages" und "Museum Hours", sondern auch im chinesisch-südkoreanischen Spielfilm "When Night Falls", in dem Liang Ying den realen Fall einer Mutter, die ihren Sohn vor der Hinrichtung zu bewahren versuchte, nachinszeniert und scharfe Kritik am chinesischen Justizsystem übt, im mexikanischen "Familiendrama" "Los mejores temas", in dem sich das Filmteam plötzlich in die filmische Erzählung einmischt, oder im portugiesischen "A ultima vez que vi Macau", in dem die beiden Regisseure Joao Rui Guerra da mata und Joao Pedro Rodrgues zu Bildern von Macau allein über das Voice-over eine Film noir-Handlung zu entwickeln versuchen.

Eine dokumentarische Qualität gewinnt durch nüchterne Inszenierung und Berufung auf Fakten auch Craig Zobels "Compliance" und zumindest nah an der Realität ist im ungeschminkten Blick und den ungeschönten Bildern auch Sean Bakers "Starlet". Baker erzählt von der jungen Jane, die in einer Vase, die sie der 85-jährigen Sadie abkauft, 10.000 Dollar entdeckt. Zunächst möchte sie das Geld zurückgeben, wird aber von Sadie so brüsk zurückgewiesen, dass sie ihr Anliegen gar nicht vorbringen kann.

Ganz wohl scheint Jane angesichts des unverhofften Geldsegens aber dennoch nicht zu sein und sie beginnt den Kontakt zu Sadie zu suchen, ihr beim Einkauf zu helfen oder sie zum Bingo-Nachmittag zu begleiten. Ist das der verbitterten Dame zunächst nur zuwider, so bringt Jane langsam doch ihren emotionalen Panzer zum Schmelzen.

Die Geschichte mag nicht besonders originell sein, ist aber – gerade im Vergleich mit "Une estonienne à Paris" - frisch erzählt. Ob es den Blick auf die kalifornische Porno-Industrie gebraucht hat, um den Kontrast zwischen Sadie und Jane zu akzentuieren, kann freilich in Frage gestellt werden. – In einem äußerst inhomogenen Wettbewerb, in dem das herausragende Meisterwerk fehlte und noch stärker als sonst subjektive Vorlieben der Jury den Ausschlag geben werden, scheint "Starlet" als Kompromiss zwischen den Extremen neben "Der Glanz des Tages" aber durchaus ein Anwärter auf den einen oder anderen Preis zu sein.