Locarno 2010: Vom zu runden Drama bis zur irrwitzigen Serienkiller-Persiflage

Beim 63. Filmfestival von Locarno fällt vor allem die Bandbreite der Filme auf. Keine Angst vor der Programmierung von völlig Konträrem zeigt der neue künstlerische Leiter Olivier Père. So läuft im Wettbewerb neben einem auf schwule Sexszenen setzenden Trennungsdrama ein in seiner Rundheit schon kitschiger Film über Verlust und Tod, während auf der Piazza im irrwitzigen "Rubber" ein Autoreifen zum Serienkiller wird.

Eine Beziehung zwischen zwei Männern geht in Christophe Honorés "Homme au bain" zu Ende. Der Eine bleibt in Frankreich zurück, der andere, ein Filmemacher, geht nach New York. Dort filmt er mit seiner Videokamera dies und das, befragt einen Taxifahrer nach seiner politischen Meinung. Der andere, gespielt vom Pornostar Francois Sagat, der seinen Körper schon in "LA. Zombie" ausstellte, besucht einen Kunstliebhaber in der Wohnung nebenan und befragt ihn nach der Meinung über seinen Körper, hat mal Sex mit einem Jugendlichen, lässt sich dann von diesem den Kopf rasieren oder rasiert ihm seinerseits den Hintern. – Man darf sich fragen, was sich Honoré gedacht hat, als er diesen Film drehte, an dem das einzig Positive ist, dass er nach 70 Minuten zu Ende ist.

Deutlich mehr Freude kann man da schon mit "La petite chambre" von Stéphanie Chuat und Véronique Reymond haben. Behutsam und einfühlsam erzählen die beiden Filmemacherinnen von einen alten Mann, den sein Sohn erfolglos in ein Seniorenheim abschieben will, und einer Pflegerin, die über die Totgeburt ihres Kindes nicht hinwegkommt.

Vorhersehen kann man, dass sich die beiden im Laufe des Films näherkommen werden, doch da hier so ernste und wichtige Themen wie der Umgang mit älteren Menschen, Trauerarbeit sowie Karriere kontra Mitgefühl im Zentrum stehen, kann man über dieses Manko noch gerne hinwegsehen.

Schwerer wiegt schon, dass am Drehbuch offenbar so lange geschliffen wurde, bis der Geschichte alle Kanten ausgetrieben waren und am Ende alles rund aufgeht. Wenn der alte Edmond im Kinderzimmer, das Rose nach der Totgeburt zur Tabuzone erklärt hat, sich einquartiert und sie durch Edmond als Kindersatz erstmals sich ihrem Schmerz richtig zu stellen lernt, wenn Edmond sich mit seinem Sohn versöhnt und Frieden im Tod findet und sich zudem für Rose in einer neuen Schwangerschaft ein Neubeginn ankündigt, dann ist das eben in jeder Beziehung zumindest einen Tick zu viel.

Lange bewegend in seiner sehr sorgfältigen Ausarbeitung und Feinfühligkeit, stürzt "La petite chambre" so schließlich doch zunehmend in picksüßen Kitsch ab. Aus der Wahrhaftigkeit des Beginns wird durch Überkonstruktion und Streben nach Harmonie eine Kinolüge, die reale Probleme verwässert und kaum verwirklichbare Sehnsüchte nach völliger Erlösung und einer rundum heilen Welt bedient.

Völlig ungetrübtes Vergnügen bereitet dagegen Quentin Dupieuxs durchgeknalltes Kinostück "Rubber". Irgendwo in den rotbraunen Halbwüsten des Südwestens der USA erwacht hier ein Autoreifen auf einer Mülldeponie zu Leben. Unsicher sind seine ersten Rollversuche, mehrmals kippt er, doch bald rollt er recht sicher dahin. Eine Petflasche überfährt er ebenso wie ein Skorpion, für eine Glasflasche reicht aber die Reifenkraft nicht. Also beginnt er zu surren und telekinetische Kräfte zu entwickeln, mit der der Killerreifen die Flasche zum Explodieren bringt.

Das ist freilich erst der Anfang, denn bald muss ein Rabe und ein Kaninchen, schließlich auch Menschen dranglauben, deren Köpfe ganz im Stil von Cronenbergs "Scanners" zum Platzen gebracht werden.

Funktioniert "Rubber" schon auf dieser Ebene dank gekonnter Verschiebung von genretypischen Szenen ins Witzige und der Situierung in der prächtigen Landschaft vorzüglich, so bringt der französische Musiker und Filmemacher noch eine Metaebene ins Spiel. Das beginnt damit, dass der Protagonist des Films am Beginn gleich einmal direkt in die Kamera erklärt, dass es für das Geschehen in vielen Filmen wie die Liebe der Protagonisten in "Love Story", die braune Hautfarbe von "E.T." oder dafür, dass in "Texas Chain Saw Massacre" nie jemand aufs Klo geht oder sich die Hände wäscht, keine Erklärungen gibt.

Gesteigert wird die Durchbrechung der filmischen Erzählung aber noch dadurch, dass Dupieux Zuschauer auftreten lässt, die den Mörderreifen bei seinen Aktionen mit Feldstecher verfolgen und das Filmgeschehen kommentieren. Auch auf dieser Ebene wird eine Handlung entwickelt, die sich wiederum auf die Geschehnisse um den Killerreifen – gewissermaßen also den Film im Film – auswirken. – Nur außerhalb des Wettbewerbs um den Goldenen Leoparden kann freilich so eine mörderisch unterhaltsame Persiflage, die das Zeug zum Kultfilm hat, laufen.

Teaser zu "Rubber"