Locarno 2010: Perspektivelose Jugendliche und leidende Männer

Wohlgefühl verbreitete im Wettbewerb des 63. Filmfestivals von Locarno nur "La petite chambre", ansonsten dominierten eigenwillige Filme. Dazu gehören auch der chinesische Beitrag "Winter Vacation", der türkische "Sac - Hair" oder der italienische "Pietro". Restlos zu begeistern vermochten aber auch diese Filme nicht, sodass man gespannt der Preisverleihung entgegensehen darf.

Den radikalsten und konsequentesten Film des Wettbewerbs legte – abgesehen von dem allein schon durch seine Länge von sechs Stunden herausragenden Dokumentarfilm "Karamay" - der Chinese Li Hongqi mit "Han jia - Winter Vacation" vor. Hongqi zeigt in langen statischen und zumeist distanzierten Einstellungen Schüler, wie sie über Schule oder Freunde reden, einen Enkel, der mit seinem Großvater in einem weitgehend leeren Wohnzimmer auf einer Couch sitzt, oder eine Marktszene, in der eine Frau den Verkäufer herunterhandelt, ehe sie ihren Kohl kauft.

Am Ende sitzen die Schüler in ihrer Klasse. Zunächst will ein Lehrer mit dem Unterricht loslegen, wird aber sogleich von einer eintretenden Lehrerin darauf hingewiesen, dass er sich wohl in der Klasse geirrt habe. Nun beginnt sie in Englisch zu unterrichten und schreibt das Stundenthema auf die Tafel: "Wie werde ich ein nützliches Mitglied unserer Gesellschaft?" Ein Blick in die Klasse zeigt absolutes Desinteresse und ein Punksong beendet den Film.

Handlung gibt es über 90 Minuten praktisch keine, nichts als Menschen beim Reden sieht man, auch der Hintergrund der kargen Bilder bietet keine Anreize für die Augen. Mühsam ist dieser Film dadurch, aber gleichzeitig eindringlich in der Evokation von Stillstand, Orientierungs- und Perspektivelosigkeit - und ganz nebenbei stellen sich dabei auch Momente feinsten knochentrockenen Humors ein. Mehr von letzterem hätte man sich allerdings schon gewünscht oder auch mehr so eingängige Szenen wie das denkwürdige Finale, in dem massiv und überraschend offen Kritik an der chinesischen Gesellschaft geübt wird.

Wird in "Winter Vacation" dauernd geredet, so bestimmt Schweigen den türkischen Wettbewerbsbeitrag "Sac – Hair": Todkrank ist der Perückenmacher Hamdi, der ein einsames Leben in Istanbul führt. Als ihm eine Frau ihr langes schwarzes Haar verkauft, beginnt er dieser nachzuspionieren und beseitigt schließlich sogar ihren Ehemann um dessen Platz einzunehmen.

Konsequent ist das in langen statischen Einstellungen inszeniert. Auf Musik wird verzichtet, die Farben sind dunkel und die Menschen verlegen sich vor allem aufs Schweigen. Wie bei Nuri Bilge Ceylan evoziert auch Tayfun Pirselimoglu eine Atmosphäre der Einsamkeit, Verlorenheit und Kommunikationslosigkeit.

Bis zu einem gewissen Punkt funktioniert das auch vorzüglich, entwickelt "Sac" schleichend große Dichte und zieht den Zuschauer in das "Geschehen" hinein. Statt die Geschichte aber weiter zu entwickeln, verlegt sich Pirselimoglu allerdings zunehmend aufs selbstzweckhafte Zelebrieren seines Stils. Jeder Blick wird da gedehnt, das langsame Rauchen einer Zigarette ostentativ zur Schau gestellt, jedes Bild ausgestellt und zwanghaft geschwiegen. So verliert sich mit der Geschichte auch die Intensität in der Pose und das Interesse beim Zuschauer verflüchtigt sich.

Ungleich kompakter ist da Daniele Gaglianones "Pietro". Den Blick richtet der Italiener konsequent auf den von Pietro Casella großartig gespielten Protagonisten. Mit dem Verteilen von Flyern verdient sich dieser geistig etwas zurückgebliebene Endzwanziger ein bisschen Geld, lebt mit seinem drogenabhängigen Bruder in einer heruntergekommenen Wohnung und muss von seinem Chef, aber auch von seinem Bruder ständig Demütigungen hinnehmen. Wehren kann er sich nicht, nimmt alles leidend hin, doch einmal wird das Fass überlaufen...

Gaglianone übernimmt in der Einengung des Blicks, in Einstellungen, die nie einen Überblick über das Umfeld vermitteln, sondern immer ganz nah am Protagonisten sind, die Wahrnehmung Pietros. Keine Hintergrundinformationen werden über ihn geliefert, einzig über seine Kontakte und seine Handlungen lernt man ihn kennen. Eindringlich als Porträt ist dieser Film zwar, lässt aber in der sehr begrenzten Perspektive am Ende doch etwas unbefriedigt zurück.