L’albero della cuccagna - Paul Renner und Christian Schramm

Im Neapel des 18. Jahrhunderts hingen im Karneval Berge an Lebensmitteln an einem riesigen, baumähnlichen Gerüst. Die verarmte Bevölkerung stürzte sich in einem kollektiven Exzess auf diese sogenannten Cuccagnas, verwüstete den jeweiligen Ort, und der Adel ergötzte sich an diesem Spektakel. Seit 2009 errichtet der aus Vorarlberg stammende Künstler Paul Renner an verschiedenen Orten in Asien und Europa solche "Lebensmitteltürme". Seine jüngste, zehn Meter hohe Skulptur steht im Atrium des Vorarlberg Museums – umgeben von großformatigen Bilder des Bregenzer Fotografen Christian Schramm, der alle Cuccagnas von Renner dokumentiert hat.

Den ersten Hinweis auf eine cuccagna – zu Deutsch "Schlaraffenland" – fand Renner in einem Buch über Bauten, die im 18. Jahrhundert anlässlich neapolitanischer Festivitäten errichtet wurden. Die Stiche darin zeigen riesige Gebilde mit Anhäufungen von Lebensmitteln. Einen weiteren Anhaltspunkt auf diese Gebilde entnahm er dem Buch "Die italienische Reise" von François de Sade, der darin das "allerbarbarischste Spektakel der Welt" schilderte. Die Menschen stürmten die "Fresstürme" mit den aufgehängten Lebensmitteln und kamen dabei oft selbst zu Tode.

Das Orgiastische, Frivole, Subversive, der Rausch und die Ekstase – all das fasziniert den Künstler Paul Renner, der einst Assistent des Aktionskünstlers Hermann Nitsch war. Hemmungslosigkeit und Grenzüberschreitung sind Merkmale und Antrieb seiner Kunst. "Es sind die Strukturen, Normen und Gesetze, die uns in zwanghafter Regulierungssucht immer weiter zuschnüren, von der möglichen Fülle des Lebens entfremden und zu unauffälligen, unglücklichen Ja-Sagern machen. Die Orte, an denen wir leben, sind rauchfrei, kalorienreduziert, hygienisch kontrolliert, klimatisiert und risikominimiert. Die Wildheit und Buntheit des Lebens geht dabei völlig vor die Hunde." Mit der Kunst taucht Renner in die Fülle des Lebens ein, vereint Malerei, Bildhauerei mit Kulinarik, Musik, Literatur und Live-Performance und schafft unvergessliche Erlebnisse.

Der in Italien, Wien und in Egg lebende Künstler schuf an mehreren Orten Europas (u.a. in Mailand, Neapel, London) und in Shanghai insgesamt elf Cuccagnas. Die verwendeten Materialien beziehen sich immer auf die Umgebung des Aufstellungsortes. Dabei spielen auch formal-ästhetische Überlegungen eine Rolle, wie die Idee der Dekonstruktion des "Fressturms". Die Materialien für die Cuccagna im Vorarlberg Museum sind getrocknete und sterilisierte Lebensmittel bzw. Samen und Blüten sowie vergoldete Paneele mit Dammarharz eingegossen. Der von Renner ausgewählte Titel "Narrenturm" nimmt unmittelbar Bezug auf die 1784 von Kaiser Josef II. erbaute erste "Irrenanstalt" Europas, den Wiener Narrenturm im Alsergrund. Seit 2012 ist dort die pathologisch-anatomische Sammlung des Naturhistorischen Museums untergebracht.

Die zehn Meter hohe Cuccagna im Atrium des Vorarlberg Museums wird umrahmt von großformatigen Bildern des Bregenzer Fotografen Christian Schramm, der alle bisher von Renner errichteten Cuccagnas dokumentiert hat. Sie sind auch Ausdruck einer Freundschaft – Renner und Schramm arbeiten seit 20 Jahren zusammen.

L’albero della cuccagna
Der Künstler und sein Fotograf
Paul Renner & Christian Schramm
Ausstellung im Atrium bis 15. Oktober 2023