Kulturerbe als neue Herausforderung

Das Vorarlberg Museum setzt sich im Rahmen der aktuell laufenden Ausstellung "Was uns wichtig ist!" mit der "Herausforderung Kulturerbe" auseinander. Hintergrund dazu ist, dass sich eine Gesellschaft nicht zuletzt über ihre kulturelle Vergangenheit definiert. Die Meinungen allerdings, was heute zum Kulturerbe zu zählen ist, gehen weit auseinander. Es geht letztlich um Definitionsmacht, Auswahlund Repräsentation. Genau zu diesem Thema findet am Freitag, den 10. März (19.00 bis 20.30 Uhr) im Vorarlberg Museum eine Podiumsdiskussion mit Muhammet Ali Baș (Künstler), Renate Breuß (Kunsthistorikerin), Gregor Eldarb (Künstler), Viktoria Tremmel (Künstlerin) sowie Bernhard Tschofen (Professor für Populäre Kulturen an der Universität Zürich). Eine zentrale Frage wird dabei sein, inwieweit sich durch die zeitgenössische Kunst eine neue Perspektive auf das Vergangene eröffnen lässt und welche Impulse sie für eine Debatte über Demokratisierung und Pluralisierung von Kulturerbe bietet. Mit Christa und Sabine Benzer, die diese Podiumsdiskussion moderieren, führte Karlheinz Pichler dazu das nachfolgende Gespräch.

Karlheinz Pichler: Was als Kulturerbe bewahrt wird, wurde bislang in erster Linie von oben herab diktiert. Die Machtrepräsentanten, seien dies weltliche oder klerikale, waren es, die die dazu notwendigen Einrichtungen schufen, um das Kulturelle Erbe zu bewahren. Wer entscheidet aber heute, was als Kulturelles Erbe zu denken ist? Heute, da sich die Gesellschaften geöffnet haben, durchlässig geworden sind. Und es unzählige Einrichtungen gibt wie Stiftungen, Privatsammlungen etc. gibt.

Sabine Benzer: Ganz zentrale Forderungen in Zusammenhang mit Kulturerbe sind Demokratisierung, Pluralisierung und Zugänglichkeit. Und die Stimmen werden tatsächlich vielfältiger: Die Denkmalstürze des Sklavenhändlers Edward Colston in Bristol etwa oder des Konföderiertengenerals Albert Pike in den USA zeigen auf, dass die Bedeutung von Kulturerbe für die Identität der Gesellschaft immer noch ganz wesentlich ist, und die Menschen sich mit ihr auseinandersetzen wollen und nicht mehr alles als „ihr“ Kulturerbe annehmen, es sogar entfernt haben wollen.
Oder aber, wie Michael Rothberg in seinem Buch „Multidirektionale Erinnerung“ schreibt, benötigt es weitere Archive, um bisher nicht gehörte Stimmen, „neue Stimmen“, auch im Kulturerbe zu repräsentieren.
Was die Definitionsmacht über Kulturerbe betrifft, so ist es natürlich nach wie vor die Unesco, die hier ein sehr machtvolles Regime führt, denkt man nur an diese Aberkennungsdebatte des Kultursiegels für die Wiener Innenstadt (sollte der Heumarkt mit einem neuen Hochhaus den sogenannten „Canaletto Blick“ verstellen).

Pichler: Aber wie geht man mit politischen und sozialen Umwälzungen und mit der Aufarbeitung vergangener, aber immer noch nachwirkender Themen tatsächlich um. Sie haben die Denkmalstürze erwähnt, die es ja derzeit auch in der Ukraine und auch in Wien gibt.

Christa Benzer: Wir denken, dass es gerade die aktuellen Beiträge von Künstler:innen in der Auseinandersetzung mit Kulturerbe sind, die hier ganz wesentliche Beiträge liefern.
Wir zeigen eine Auswahl in der Ausstellung „Was uns wichtig ist!“ im Vorarlberg Museum.
Anna Jermolaewas Arbeit etwa beschäftigt sich in ganz nachdrücklicher Weise mit der kommunistischen Vergangenheit in der Ukraine. „Leninopad“ setzt sich aus einer riesigen Leninfigur zusammen, die sie in einem Rathauskeller in der Provinz gefunden hat, und einer Videoarbeit mit Interviews, die auf einer Reise durch die Ukraine entstanden sind. Die Menschen wurden befragt, wie sie die „Denkmalstürze“ im Zuge des Dekommunisierungsgesetzes von 2015 beurteilen. Die Antworten fallen ganz unterschiedlich aus, für manche ist es ein Teil ihrer Geschichte, andere wiederum freuen sich darüber, diese Vergangenheit hinter sich zu lassen.

Das zweite Beispiel, dass Sie ansprechen, ist eine in Österreich intensiv geführte Debatte über das Denkmal des Wiener Bürgemeisters Karl Lueger, der um die Jahrhundertwende in Wien viel Infrastruktur geschaffen hat, aber vor allem als Populist und Antisemit bekannt ist. Die jüdische Hochschülerschaft fordert den sofortigen Abriss, Historiker:innen aber argumentieren, dass Geschichte nicht einfach verdrängt werden soll.
Der Künstler Klemens Wihlidahl setzte sich bereits 2010 mit dem Denkmal auseinander und erarbeitete, wie wir finden, ein denkwürdiges künstlerisches Kommentar: Er setzt die Statue des Bürgermeisters in einem Wettbewerbsbeitrag einfach um 3,5 Grad schief. Eine sichtbare Irritation im öffentlichen Raum, die zur Auseinandersetzung damit auffordert.

Die Stadt Wien hat sich aktuell zu einer permanenten künstlerischen Kontextualisierung des Denkmals entschlossen, will das Denkmal zum „gesellschaftlichen Lernort“ machen und hat Künstler:innen im Rahmen eines Wettbewerbs um Vorschläge gebeten. Im Mai 2023 wird eine Jury darüber entscheiden.

Pichler: Das sind punktuelle Auseinandersetzungen. Was aber ist die zeitgenössische Kunst tatsächlich imstande, wenn es darum geht, neue Debatten in Bezug auf die Demokratisierung und Pluralisierung von Kulturerbe anzustoßen?

Sabine Benzer: Jede der Arbeiten, die aktuell im VM zu sehen sind, wirken als eigenständige Kunstwerke, stehen aber auch für wichtige Aspekte in der Kulturerbedebatte – vom schweren Erbe über die Transformation von Kulturerbe, Fragen der Aneignung und Restitution, Aktualisierung bzw. Repräsentation bisher unbeachtetem Erbe, Verfügbarkeit von Kulturerbe bis zum Versuch, Vergangenheit „neu“ zu erzählen.
Sehr gerne nennen wir in diesem Zusammenhang zum Beispiel die Arbeit von Viktoria Tremmel, die mit ihrer künstlerischen Hommage an die Anfang 19. Jahrhundert lebende britische Autorin Anne Lister einen ganz wesentlichen Beitrag auch zur Gay History liefert.
Oder die Arbeit von Muhammet Ali Baş zum Autor Kundeyt Şurdum, eine besondere poetische Referenz, die das Aufbrechen von Zuschreibungen im Kulturerbe kritisch befragt.

Pichler: Auf Social-Medien-Plattformen werden heute täglich Milliarden von Bildern, Texten und Kompositionen hochgeladen. Unzählige Blogs existieren, in denen sich die Leute als Kreative-Content-Produzenten, als kulturelle Influenzer etc. bezeichnen. Wie ist es heute überhaupt noch möglich, aus diesen Datenbergen noch Auswahlen zu treffen? Wer legt die Archive dafür an? Oder landen all die Milliarden von Postings auf der Müllhalde der Geschichte?

Christa Benzer: Das sind wohl die spannenden Fragen in Zusammenhang mit digitalem Kulturerbe. Obwohl viele Menschen heute auf ihrem Instagram Account bereits eigene umfassende digitale Archive haben, scheint uns die Frage nach Pluralisierung und Demokratisierung auch in diesem Zusammenhang unverzichtbar. Hier ist sicherlich die Politik und zivilgesellschaftliches Engagement gefordert, auszuwählen, was bewahrt werden soll und dann diese Archive zu erstellen und zu betreuen bzw. zu finanzieren. Und vor allem dafür zu sorgen, auch diese Auswahl permanent zur Diskussion zu stellen und aktiv einen Dialog darüber zu führen, „was uns wichtig ist!“. Mit dem Handy wird heute alles dokumentiert. Zum Beispiel auch Kriegsverbrechen – wie jetzt gerade in der Ukraine. Dies zeigt, welche Bedeutung diese „Archive“ haben.

Pichler: Kann man daraus folgern, dass klassische Museen und Archive ausgedient haben?

Sabine Benzer: Wir haben sowohl im Volkskundemuseum in Wien als auch im Vorarlberg Museum erlebt, wie intensiv sich diese Häuser mit ihren Aufgaben als Museen im 21. Jahrhundert beschäftigen, wie stark hier vor allem die Zugänglichkeit und Teilhabe im Vordergrund steht. In Zeiten, in denen uns die Pandemie aufgezeigt hat, dass die Digitalisierung notwendig ist, aber physische Begegnung, Austausch, Partizipation für die Menschen, für die Gesellschaft unverzichtbar sind, sind die „klassischen“ Museen und Archive gefordert, dafür Antworten zu finden.
Das Vielfaltenarchiv, das Fatih Özcelik betreut, und das für einen lange nicht beachteten Teil Vorarlberger Geschichte, für Migrationsgeschichte seit den 1970er Jahren, steht, kann als inspirierendes Beispiel dafür dienen, wie zeitgemäß eine solche Institution auf Gesellschaft reagieren kann.

Pichler: Ist kulturelles Erbe heute das Eigentum der Allgemeinheit? Wie haben Präsentation und Zugänge zu erfolgen? Wenn alles digitalisiert ist – muss dann alles für alle freigegeben werden?

Christa Benzer: Die Faro Konvention des Europarates stellt die Vermittlung und Zugänglichkeit in den Mittelpunkt. Auf der anderen Seite wird die Verfügbarkeit zu Kulturerbe natürlich reglementiert, wenn zum Beispiel Konzerne die Rechte an alten Filmen kaufen.
Vor allem stellt sich vehement auch das Problem, dass der Zugang zur digitalen Welt durch „Algorithmen“ geregelt wird, die bestimmen, welchen „Ausschnitt“ wir überhaupt noch wahrnehmen können.

Pichler: Ist dann aber eigentlich noch Kontrolle möglich? Respektive ist Kontrolle überhaupt noch notwendig? Was passiert mit Mißbräuchen – wenn zum Beispiel Neonazis mit Nazi-Bildern und Nazi-Gegenständen Werbung machen? Wer stellt hier noch Regeln auf?

Sabine Benzer: Das ist wohl eine Mordsdiskussion, die da aktuell in Gange ist. Diese intensive Debatte im Zuge der Novelle des europäischen Urheberrechts hat wohl aufgezeigt, dass das eine sehr komplexe Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Interessen ist – auf der einen Seite der Wunsch nach einem „freien“, für alle zugänglichen Internet, auf der anderen Seite öffentlicher Raum, der demokratisch geregelt werden muss: Datenschutz und Urheberreche sind wohl die Bereiche, für die es dringend Vorschriften geben muss, die es unterbinden, dass Menschen manipuliert, ausspioniert, verfolgt werden.

Pichler: In der Mac-Welt gibt es die sogenannte „Time-Machine“, die immer den neuesten Stand der Daten auf dem Rechner archiviert. Bräuchte es heute in Anbetracht der gegenseitigen kulturellen Beeinflussungen durch Migration, Mobilität, Öffnung etc. nicht so etwas wie eine „Globale Time Machine“?

Christa Benzer: Das würde allen Versuchen einer Demokratisierung und Pluralisiserung widersprechen, wenn Google oder Apple zentralisiert und von oben ihre „Global Time Machine“ über die Welt stülpen würde. Wird eh schon genug gemacht. Da ginge es wohl eher darum, dem etwas entgegenzuhalten, dass globale digitale Mega-Unternehmen hier solche Instrumente universell einsetzen. Das macht eher Angst.