Kirchners Bogenschützen – kunstgeschichtliche Reflexionen

Auf der Suche nach dem Ursprünglichen und Unverfälschten entdeckten Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel und Max Pechstein im Juni 1909 das Seengebiet um das barocke Jagdschloss Moritzburg vor den Toren Dresdens. Die unbeschwerten sommerlichen Bade- und Malvergnügungen in der als paradiesisch empfundenen Natur führten bei Kirchner zu radikalen Formvereinfachungen und intensiven Farbsteigerungen.

Er übte sich auch in archaischen Disziplinen wie Bumerangwerfen und Bogenschießen, die seiner Vorstellung von einem ursprünglichen Leben im Einklang mit der Natur entsprachen. Kirchner eiferte damit den Naturvölkern Westafrikas und Ozeaniens nach, die er auf Völkerschauen beobachtet und deren Kunst er im Dresdner Völkerkundemuseum bewundert hatte. Seine Modelle stellte er wiederholt im Atelier oder an den Moritzburger Teichen mit Pfeil und Bogen dar.

Nachdem Kirchner Mitte der 1920er Jahre in Davos eine künstlerische Neuorientierung vollzog, die ihn vom expressiv Bewegten zum flächendekorativ Beruhigten führte, begann er sich seit den frühen 1930er Jahren erneut intensiv mit dem Bogenschießen zu beschäftigen. In dieser Zeit betrieb Kirchner auch Beleuchtungsstudien und interessierte sich für Schattenphänomene. Seine Malerei dieser Zeit zeigt ein höchst reizvolles Spiel mit der Vervielfältigung menschlicher Figuren durch farbige Lichtkegel und Schlagschatten. Durch das Stilmittel der Körperverschiebung werden Bewegungsabläufe der Figuren wie im Zeitraffer sichtbar gemacht. Kirchner verwendet schwungvolle Lineaturen um fließende Bewegungen darzustellen.

Mit Ausgangspunkt in Kirchners "Bogenschützen" (1935-37) sollen einzelne motivische und kompositorische Aspekte dieses späten Meisterwerks im Dialog mit Werken anderer Künstler durchgespielt und untersucht werden. Insbesondere die Darstellung von Bewegung und der spielerische Umgang mit dem Schattenphänomen sollen einer genaueren Betrachtung unterzogen werden.

Sigmar Polkes Werk "Lucky Luke and His Friend" (1971-75) bezieht sich auf den bekannten Comic-Helden, der schneller als sein eigener Schatten schießen kann, während die bewegte Installation "Hemd" (1993/2003) von Roman Signer einen hintersinnige Erweiterung des Skulpturenbegriffs darstellt. William S. Burroughs, Ikone der amerikanischen Beat-Generation, entwickelte in seinem Spätwerk mit den sogenannten Shotgun-Paintings ein eigenes Bildgenre. Der dänische Künstler Poul Gernes, der mit seinen systematischen Farbanordnungen und Zielscheibenbildern bekannt wurde, ist in jüngster Zeit als wichtige Position der Avantgarde wiederentdeckt worden. Harald E. Edgertons experimentelle Hochgeschwindigkeitsfotografie "Bullet through Apple" (1964) visualisiert Phänomene, die dem menschlichen Auge verborgen bleiben und Simon Dybbroe Møller bestätigt kongenial in seiner Arbeit "2 AM" (2003) ein Zitat der amerikanischen Künstlerin Agnes Martin: "And sometimes there are moments of perfection."

Die Videoinstallation "Saint Sebastian" (2001) der niederländische Künstlerin Fiona Tan entstand in Verbindung mit der alljährlichen Toshiya-Zeremonie in Kyoto, bei der sich junge Männer und Frauen im Bogenschießen messen. Die Künstlerin zeigt in einer Doppelprojektion einerseits die Vorbereitungen der Frauen auf den Wettkampf und anderseits den Augenblick höchster Anspannung, wenn der Bogen gespannt wird und der Pfeil die Sehne verlässt. Nicht nur das Treffen des Ziels steht im Zentrum dieses traditionellen Wettkampfs, sondern auch das Zusammenspiel von Konzentration, innerer Ruhe und ästhetischer Darstellung. Die Bilder der jungen bogenschießenden Frauen in traditionellen Kimonos sind von atemberaubender Schönheit und vermitteln jene von Körperspannung, Anmut und Eleganz aufgeladene Atmosphäre, die auch Ernst Ludwig Kirchner immer wieder beim Bogenschießen fasziniert hat.

Eine Situation, die von höchster Gefährdung und bedingungslosem Vertrauen bestimmt ist, zeigt die Videoperformance "Rest Energy" (1980) von Marina Abramovic und Ulay (Frank Uwe Laysiepen). Abramovic und Ulay stehen einander in einer spannungsvollen Situation gegenüber, sie umfasst mit der Hand die Mitte eines großen Bogens, er spannt die Sehne und hält den Pfeil, dessen Spitze auf Abramovics Herz gerichtet ist. Die Grenze zwischen Kunst und Leben wird in dieser lebensgefährlichen Performance offenkundig überschritten.

Ernst Ludwig Kirchners Werk soll durch diesen exemplarischen Dialog mit zeitgenössischen Positionen in seiner Aktualität gewürdigt, in einen breiteren ästhetischdiskursiven Zusammenhang gestellt und für neue Sichtweisen zugänglich gemacht werden.

Kirchners Bogenschützen – kunstgeschichtliche Reflexionen
30. Juni bis 17. November 2013