Kartoffeln oder nicht Kartoffeln – das ist die Frage

1. August 2011 Kurt Bracharz
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Das 1908 in Wien erschienene "Gastronomische Lexikon" von Scheichelbauer und Giblhauser, ein ebenso materialreiches wie zuverlässiges Werk, zählt zehn Spalten lang Salate auf, darunter diesen: "Römischer Salat u. Tomaten in Scheiben geschnitten, werden mit gehacktem Estragon vermischt u. mit Mayonnaise übergossen". Kaum jemand wird erraten, dass damit die Salade à la niçoise beschrieben wurde, die heute zumindest im deutschsprachigen Raum meistens für eine Art Thunfischsalat gehalten wird.

Das war nicht immer so. Das "Lexikon der Küche" von Richard Hering, Wien 1927, das acht Seiten für Salatvariationen aufwendet, gibt als Bestandteile von "Salade Niçoise" an: "Kartoffeln, grüne Bohnen, Tomaten, Oliven, Kappern und Sardellenfilets". Der "Almanach der feinen Küche" von Marcel X. Boulestin, dessen deutsche Übersetzung 1932 in Frankfurt am Main erschien, kennt zwar einen namenlosen "Salat aus Thunfisch mit Sellerie", führt aber einen "Fleischsalat Nizza" an, der aus kaltem, gebratenem Hühnerflügel, Schinken, Mortadella (!) und Räucherhering, alles à la julienne geschnitten, sowie hartgekochtem Eiweiß, roter Rübe, Kartoffeln, Apfeln, Sellerie, Pfefferschote, Oliven und Salatherz besteht.

Katinka Mostar vermengt in "Salat, das ganze Jahr Salat", München 1971, für "Nizzasalat" einen halben Kopfsalat oder "in Stücke gerissenen Endiviensalat" mit reichlich französischer Salatsauce, geviertelten Artischockenböden oder eingelegten Artischockenherzen, Tomaten, schwarzen Oliven und Sardellenfilets mit Kapern. Nach der abschließenden Anweisung "Garnieren Sie hübsch mit hartem Ei" fährt die Autorin fort: "Dieser Nizzasalat ist ein schmackhaftes Hors d’oeuvre, das man in Nizza selbst und an der ganzen Côte d’Azur mit geringen Abweichungen so bekommt, wie er eben angegeben wurde." Dann zitiert sie aber noch „das berühmteste gastronomische Lexikon der Welt“, den "Larousse", der gekochte Kartoffeln und in Stückchen geteilte, gekochte grüne Bohnen "reichlich mit French Dressing" mischt, das Ganze kuppelförmig aufschichtet und mit Sardellenfilets, Oliven, Kapern, Tomatenscheiben sowie gehacktem Kerbel und Estragon anzurichten empfiehlt.

Zu Kartoffeln als Bestandteil der Salade à la niçoise zitiert Sabine Schneider in "La Bonne Grand-mère", München 2000, aus dem Buch "Cuisine niçoise" des langjährigen Bürgermeisters von Nizza Jacques Médesin: "Welche Verbrechen werden an diesem reinen und frischen Salat begangen, der auf Tomatenbasis zubereitet wird und außer den Eiern ausschließlich rohe Zutaten enthält; der ohne Essig angemacht wird, dessen Tomaten dreimal gesalzen und mit einem Schuß Olivenöl übergossen werden! Ich bitte inständig alle diejenigen, die den Ruf der einheimischen Küche wahren wollen, niemals auch nur die geringste Menge gekochtes Gemüse oder eine Kartoffel in den Nizza-Salat zu geben."

Es folgt ein von Schneider so bezeichnetes "Originalrezept", das geviertelte, gesalzene Tomaten und geviertelte hartgekochte Eier auf einen Salat setzt, der aus Anchovisfilets oder Dosenthunfisch, dünnen Gurkenscheiben, Ringen von grünen Paprikaschoten, Zwiebeln und kleinen grünen Bohnen in einer Marinade aus Olivenöl, gehacktem Basilikum, Salz und Pfeffer besteht. Den fertigen Salat mit den nochmals gesalzenen Tomaten und Eiern obenauf lässt man im Kühlschrank durchziehen. Schneider erwähnt weiters, dass man früher zur Sättigung altbackenes Brot unter den Salat gemischt hat, woraus sich das Pan bagnat entwickelte, ein halbiertes, ausgehöhltes rundes Brot mit 20 cm Durchmesser, das mit Nizza-Salat gefüllt wird.

Im Time-Life-Buch "Salate auf neue Art", Amsterdam 1988, wird Salade Niçoise noch auf alte Art mit Kartoffeln gemacht, und doch (für damals) modern, die Kartoffeln nämlich – ebenso wie die grünen Bohnen – in der Mikrowelle gekocht. Statt Dosenthunfisch wird rohes Thunfischfilet verwendet, das in einer Marinade aus Weißweinessig, Estragon, Dijon-Senf, roten Zwiebeln, Knoblauch, Fischfonds oder ungesalzener Hühnerbrühe und Pfeffer pochiert wird, natürlich auch in der Mikrowelle. Die anderen Zutaten sind die üblichen (schwarze Oliven, Tomaten, Olivenöl), aber von den hartgekochten Eiern wird wie in Boulestins Rezept der Dotter entfernt, also nur das Eiweiß verwendet, und der fertige Nizza-Salat auf Kopfsalatblättern angerichtet.

In neueren deutschen Rezepten kommen Kartoffeln, grüne Bohnen und Gurken kaum noch vor. Thunfisch oder Anchovis, Tomaten, schwarze Oliven, hartgekochtes Ei und ein Blattsalat sind hingegen immer dabei.

Wer im Internet das Originalrezept zu finden hofft, glaubt vielleicht auf den ersten Blick, nicht enttäuscht zu werden: mehrere Eintragungen versprechen das Originalrezept, aber bei genauerer Betrachtung weichen diese "Originalrezepte" erheblich voneinander ab, wobei man eine Kartoffel- und eine Nichtkartoffel-Linie unterscheiden könnte. Die Kartoffellinie leitet sich wohl von Escoffier her, der den Salat 1903 im "Guide culinaire" mit grünen Bohnen, Kartoffeln, Tomaten, Kapern, Oliven und Sardellenfilets zubereitet. In einem Rezept des "Almanach Hachette" aus dem Jahre 1900 kommen Artischocken hinzu. Julia Child gehört zur Kartoffellinie und verwendet sowohl Thunfisch als auch Sardellen, was von den meisten Autoren abgelehnt wird, die hier auf einem entweder-oder bestehen. Die Kartoffelgegner berufen sich natürlich auf Jacques Médesin. Manche verwenden Dicke Bohnen statt Prinzessbohnen.

Wikipedia sagt, die erste Erwähnung von Salade niçoise sei 1893 in der Zeitschrift "L’Art culinaire" erfolgt, aber eine Garnitur "à la niçoise", bestehend aus Tomaten und Oliven oder Sardellen, kenne man seit 1884. Deshalb kommt das Lexikon zum Fazit: "Die bekannten Quellen legen den Schluss nahe, dass es nie ein verbindliches Standardrezept für diesen Salat gegeben hat."