Jose Dávila – Memory of a Telluric Movement

Das Museum Haus Konstruktiv widmet dem mexikanischen Künstler Jose Dávila eine umfassende Einzelausstellung. Gezeigt wird neben ausgesuchten neuen Malereien eine Vielzahl skulpturaler Arbeiten, die Dávila in sorgfältiger Auseinandersetzung mit den architektonischen Gegebenheiten des Museums zu überraschenden Werkensembles zusammenstellt.

Jose Dávila (*1974 in Guadalajara, Mexiko, lebt und arbeitet ebd.) interessiert sich für Raum und Masse sowie für mathematische Gesetze und physikalische Phänomene. Und so gehört das Spiel mit Schwerkraft und scheinbarer Schwerelosigkeit, mit Statik und Dynamik, Spannungs- und Kompressionskräften sowie jenen labilen Momenten, bevor etwas zusammenfällt, zu den Charakteristika seines Schaffens. Hinzu kommt die Einbeziehung natürlicher und industriell gefertigter Materialien; aus deren Gegenüberstellung entstehen poetische Werke, die ebenso sinnlich fesselnd wie strukturell ausformuliert sind.

Den Auftakt zur Ausstellung im Erdgeschoss bildet die raumgreifende und eigens für das Museum Haus Konstruktiv konzipierte Installation "The Act of Being Together": Einundzwanzig bis zu vier Meter hohe, vorfabrizierte Stahlträger stehen jeweils gleichschweren Gesteinsbrocken aus der Region gegenüber. Verbunden sind die Paare jeweils mit einem Stahlseil, das über einen von der Decke hängenden Haken gelegt ist. Jedes Objektpaar bringt einen Grössenabgleich zur Anschauung und tariert das Gewicht in einem heiklen Balanceakt aus. Die spannungsreichen Momente, die durch diese Konstellationen entstehen, werden durch die Materialwahl des Künstlers noch gesteigert. Dávila kombiniert hier naturbelassene Steine mit industriellem Material und thematisiert so die Dichotomie von Natur und Kultur, die im Kontext des Klimawandels aktuell neu verhandelt wird. Mit der minimalistisch anmutenden Konstruktion aus Stahl und Stein versinnbildlicht der Künstler ferner einen gesellschaftlich relevanten Wert: den des Miteinanders.

Im ersten Stock werden zwei Arbeiten aus dem Jahr 2020 zusammengeführt, die eine Vielzahl von Elementen vereinen: Als erstes begegnen die Besucher:innen der auf einem Podest ausgerichteten Installation "Will has moved mountains", deren Titel auf einen Bibelvers verweist, in dem es heisst, der Glaube könne Berge versetzen (Neues Testament 1. Kor. 13.2). Ein gekippt auf einem Stein stehender Betonkubus, zwei übereinandergestapelte Holzbalken und vier grossformatige spiegelnde Platten in gewagter Schräglage – jeweils durch ein Metallrohr, einen Stahlträger, einen Ast bzw. Stein gestützt – werden mit Spanngurten zu einer spektakulären Raumskulptur zusammengezurrt. Die fragile Stabilität der Skulptur ist das Resultat einer genau ausbalancierten Korrespondenz zwischen den Kräften, den Stützen und Neigungswinkeln sämtlicher Gegenstände. Schon die minimale Verschiebung eines einzelnen Teils würde das ganze System zusammenbrechen lassen. Die spannungsgeladene Wirkung, die sich auf die Betrachter:innen überträgt, ist ebenso anziehend wie bedrohlich, ähnlich dem philosophischen Verständnis des Erhabenen angesichts einer Naturkatastrophe. Weite, Schönheit und Zerstörung fliessen gleichermassen. An der Wand hinter der Installation hängt die Malerei "Memory of a Telluric Movement". Zu sehen sind nebeneinander fünf hochformatige Leinwände in Rot, wobei die vierte Leinwand – leicht nach unten versetzt – aus der Reihe tanzt. Dieses Verrücktsein wird zusätzlich durch eine farblich abgesetzte Quadratform betont, deren rechte obere Ecke in die fünfte Leinwand hineinragt. Das schräge Quadrat zeigt den gleichen Neigungswinkel wie der gekippte Betonwürfel der Installation "Will has moved mountains", wodurch beide Werke in einen Dialog treten; beide stellen das Phänomen Schwerkraft anschaulich dar, einmal real körperlich erfahrbar im Raum, einmal auf der zweidimensionalen Leinwand.

"Memory of a Telluric Movement" lautet auch der Titel der Ausstellung im Museum Haus Konstruktiv. Jose Dávilas sensible Kalibrierung von Masse und Leichtigkeit, Volumen und Transparenz, geometrischen und organischen Formen, natürlichen und industriellen Materialien zeichnet seine unverkennbaren Objekte, Installationen und Malereien aus. Zugleich erinnert die Präsentation im Haus Konstruktiv daran, dass jede noch so kleine (tellurische) Bewegung eine wohlausbalancierte Struktur zum Einstürzen bringen kann. In diesem Sinne verweist die Soloschau auch auf die globale Situation, die durch gesellschaftspolitische, ökologische und ökonomische Entwicklungen schnell aus dem Lot geraten kann.

In der Säulenhalle präsentiert Dávila eine breite Auswahl an Objekten. Viele von ihnen sind einzeln positioniert – darunter "Our similarities bring us to a common ground" (2021), "The exception that proves the rule" (2021), "The Act of Perseverance" (2022), "Collaborating together despite our differences" (2022) oder "Fundamental Concern" (2022) – während andere zur spannungsreichen Gruppe "Singularity has something of the unreal" (2022) zusammenfinden. Sie alle bilden eine Skulpturenlandschaft, einen an Materialien reichen Parcours. Der Raum wird durch die feine Abstimmung der Grössenverhältnisse, Sichtachsen, Spiegelungen und Bewegungsmöglichkeiten als Ganzes dynamisiert. Die hier gezeigten Werke sind das Resultat von Kombinationen oder Variationen vorangegangener Arbeiten.

Dávilas Ausstellungen und Projekte eröffnen vielfältige Bezüge zur Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts, insbesondere zur konstruktiv-konkreten Kunst, zur Minimal Art, Arte povera und zur Konzeptkunst. Mit dem "Object du Voyageur" (The traveler’s item) beispielsweise, einem Fahrradrad auf einem Stapelturm aus Metall, Beton und Ziegelstein, spielt Dávila auf Marcel Duchamps Readymade "Roue de Bicyclette" von 1913 an. In "Acapulco chair stack" (2021), einer künstlerisch-poetischen Interpretation des Möbeldesign-Klassikers aus Mexiko, schwingen wiederum Anklänge an Duchamps Flaschentrockner (1914) mit. Zitatcharakter haben auch die grossformatigen, in der Säulenhalle präsentierten Malereien. Während der Corona-Pandemie hat sich Dávila intensiv mit der Ikonografie des Kreises in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts befasst. Als Symbol steht der Kreis unter anderem für Einheit, für das Absolute, für Vollkommenheit, das Göttliche, die Unendlichkeit oder, in der Gestalt der sich in den Schwanz beissenden Schlange Uroboros, für Wiederkehr. Um wiederkehrende Geometrien geht es auch in Dávilas neuen Malereien: Darin hat er auf Kreisbilder von Kunstschaffenden wie Hilma af Klint, Frank Stella oder Willys de Castro zurückgegriffen, Teile daraus zerlegt, dupliziert und neu zusammengefügt. "The fact of constantly returning to the same point or situation" lautet der Titel dieser Arbeiten, er ist einem Eintrag aus dem Cambridge Dictionary zum Begriff "circularity" entlehnt. Dass sich die (Kunst-)Geschichte nicht nur im Kreis dreht, sondern stets voranschreitet, zeigen Dávilas neu entwickelten Narrative, mit denen er historische Positionen auf anregende Weise rekontextualisiert.

Jose Dávila – Memory of a Telluric Movement
Bis 11. September 2022
kuratiert von Sabine Schaschl