John Neumeiers Kameliendame in Wien

Einst war er der jüngste Ballettdirektor Deutschlands, jetzt verabschiedet er sich als dienstältester aller Zeiten von Hamburg. Das Wiener Staatsballett nimmt den Klassiker "Die Kameliendame" ins Repertoire – für das Publikum ein kostbares, einzigartiges Erlebnis. John Neumeier, 85 Jahre alt, ist der große Erzähler unter den Choreografen der Gegenwart, er hat das Genre des Handlungsballetts perfektioniert. Ob Tschaikowskis Dornröschen, Bachs Matthäuspassion oder die Symphonien Gustav Mahlers, mit seinen 170 Werken hat er Tanzhistorie geschrieben.

Die Kameliendame entwickelte Neumeier 1978 für das Stuttgarter Ballett. "Die Form des ganzen Romans, die Vielschichtigkeit der indirekten Erzählweise, seine poetische Kraft, die fragmentarische Art der Rückschau haben mich zu dem Ballett inspiriert", und er stellt in raschen Szenenwechseln verschiedene Gegenwarten nebeneinander. Wie in einem Kunstfilm, den er zehn Jahre später auch realisierte (seit 1907 gibt es über zwanzig teils legendäre Verfilmungen dieses Stoffes, sieben davon sind Stummfilme). 

Und in der Staatsoper Wien … wird ein jahrzehntealter Klassiker denn verändert? Neumeier würde immer seine Stücke verändern, es sei aber eine Form der Klärung, das Konzept bleibt. Er geht auch auf die Tänzerinnen und Tänzer sehr stark ein, ist mehrmals nach Wien gereist um die Paare zu bilden, bei denen das physische Zusammenspiel am harmonischsten, spannungsvollsten war. In dieser Aufführung kamen wir in den Genuss von Elena Bottaro – ausgebildet an der Mailänder Scala – als Marguerite Gautier und Davide Dato – auch in Mailand sowie an der Ballettschule der Wiener Staatsoper – als Armand Duval. "Um Marguerite zu tanzen, muss die Tänzerin eine Form der Verletzlichkeit sichtbar machen können. Weiters muss ich einen Dialog, eine Chemie zwischen Marguerite und Armand spüren. Armand ist hingebungsvoll und gleichzeitig – das liest man auch im Text von Dumas – weiß er, was er tut und was er will", sagt der Choreograf in einem Interview.

Es beginnt mit der Auktion des Nachlasses der Edelkurtisane, Erinnerungsstücke initiieren Sequenzen aus unterschiedlichen Perspektiven: im Théâtre des Variétés, die Vorstellung des Balletts Manon Lescaut als Parallelhandlung, wo Armand Marguerite kennenlernte; am Land, umgeben von feiernden Freunden, die Affäre wird noch geheim gehalten; die herzzerreißende Szene des Liebespaars nach der Entscheidung; Armands Vater; die Rückkehr ins feudale Leben; wenn Armand aus dem Tagebuch alles erfährt.

Musikalisch ausgestaltet ist die Aufführung durchgehend mit Kompositionen von Frédéric Chopin, dabei bildet das Largo aus der h-Moll Sonate den Kern des Stücks. "Wir hören es fragmentarisch bereits im Prolog und am Ende. Der größte Wendepunkt geschieht, wenn Marguerite sich ihre Liebe zu Armand eingesteht. Im Pas de deux 'auf dem Land' erklingt das Largo dann zum ersten Mal vollständig. Während die Komposition beginnt, verschwindet in der Introduktion alles um die beiden herum, Liebe ist losgelöst von Zeit und Raum. Das Largo ist wichtig und steht für die einzig glückliche, kurze Zeitspanne ihres Lebens." Ein weiterer wesentlicher Part sei das Klavierkonzert Nr.2 f-Moll im ersten Akt, welches atmosphärisch das gesellschaftliche Salonleben im 19. Jahrhundert sehr gut beschreibt, und doch lägen laut Neumeier dem Larghetto des zweiten Satzes eine Intimität und unterschwellige Melancholie inne, die die Auseinandersetzung mit der Krankheit widerspiegeln, Chopin ist mit 39 Jahren gestorben.

Eigentlich fehlt einem das Vokabular um das Dargebotene, Gesehene zu vermitteln … Und desgleichen ist auch die Tanzkunst für den Choreografen aufgrund ihrer Wortlosigkeit jene Kunst, die dem Menschen am nächsten ist, der dabei Sujet und Instrument zugleich sei. John Neumeiers Ballett findet an der Staatsoper exzellente Interpreten. Standing Ovation! Und wirklich alle sind aufgestanden, mit frenetischem Applaus.

 

Die Kameliendame
Ein Ballett von John Neumeier
nach dem Roman „La dame aux camélias“ von Alexandre Dumas d. J.
Musik: Frédéric Chopin
Choreographie, Inszenierung & Lichtkonzept: John Neumeier
Musikalische Leitung: Markus Lehtinen
Klavier: Oliver Kern, Igor Zapravdin
Bühne & Kostüme: Jürgen Rose
Umsetzung Licht: Ralf Merkel
Einstudierung: Kevin Haigen, Janusz Mazon, Ivan Urban

Marguerite Gautier: Elena Bottaro
Armand Duval: Davide Dato
Monsieur Duval: Zsolt Török
Nanina: Iliana Chivarova
Der Herzog: Igor Milos
Prudence Duvernoy: Aleksandra Liashenko
Gaston Rieux: Giorgio Fourés
Manon Lescaut: Liudmila Konovalova
Des Grieux: Alexey Popov
Olympia: Gaia Fredianelli
Graf N.: Jackson Carroll

Wiener Staatsballett
Orchester der Wiener Staatsoper