Jochen Gerz: The Walk – keine Retrospektive

Keine Retrospektive von Jochen Gerz veranstaltet das Lehmbruck Museum Duisburg ab 23. September 2018. Die Ausstellung ist keine Ausstellung und findet auch nicht im Museum statt: "The Walk", ein 100 Meter langer Weg, führt den Besucher an der ikonischen Glasfassade des Museums entlang. Hier ist ein Text zu lesen, der das Leben und das Werk des Künstlers mit acht Dekaden Zeitgeschichte verbindet. Ein Blick zurück, ein ungewöhnlicher Blick von außen auf das Museum, sein Wirken in die Stadt hinein, und ein Blick nach vorne: Richtung Zukunft von Kunst und Zivilgesellschaft. Der Text verwandelt das Museum in ein gigantisches Buch: Jede Scheibe der sieben Meter hohen Glasfassade wird zu einer Textspalte einer exemplarischen Erzählung. Die persönliche Biografie wird zum Verweis auf die Welt – auf den Blick von draußen.

"The Walk" ist Jochen Gerz‘ erste Museumsausstellung seit 15 Jahren. Gerz gehört zu den profilierten Künstlern, die in der Tradition der Moderne die museale Praxis kritisieren und sich dem kommerziellen Diktat des Kunstbetriebs entziehen. Der Ausstellung in Duisburg gingen zwei Jahre intensiver Diskussionen, Zweifel und Selbstzweifel voraus. Er sagt dazu: "Es ist immer die erste Ausstellung." Dem Werkverzeichnis nach ist es die 170ste Einzelausstellung des Künstlers. Die Einladung des Museums, eine Retrospektive auszurichten, wurde zum Auftrag für eine neue Arbeit im öffentlichen Raum. "The Walk" ist keine Retrospektive. Kein einziges Werk wird im Original zu sehen sein. In Vorbereitung der Ausstellung entstand dafür der e_Catalogue Raisonné, der alle Arbeiten jederzeit und überall online zugänglich macht.

"The Walk" ist ein Weg – der des Künstlers wie des Besuchers – durch unruhige Zeiten: der Krieg, die "Steinzeit" der Bundesrepublik Deutschland der 1950er Jahre, die Geburt der Zivilgesellschaft in den 1960ern, der Topos Erinnerung in den 1970ern, die technologischen Invasionen des täglichen Lebens, die Entdeckung der Nachhaltigkeit und die immer instabilere Perspektive Europa seit den 1980er und 1990er Jahren bis heute. Jemand erzählt sein Leben, ist der Autor dieser Geschichte und stellt zugleich die Frage: Wie erlebst du diese Zeit? Ist das deine Geschichte? Wie stellst du dir unsere Zukunft vor? Autorschaft bedeutet Zeitgenossenschaft. Wer sich selbst in der Welt sehen will, muss ein Autor werden. "The Walk" ist ein gemeinsamer Weg, auch wenn ihn jeder alleine geht.

Jochen Gerz (*1940) ist sicher einer der konsequentesten, international heute präsenten Künstler seiner Generation. Seine Jugend hat er im Rheinland verbracht und hier die Grundlagen für einen ungewöhnlichen Weg vom literarischen zum künstlerischen Schaffen gelegt. "The Walk" schließt den Kreis, der im Lehmbruck Museum 1975, ein Jahr vor der Teilnahme mit Joseph Beuys und Rainer Ruthenbeck im deutschen Pavillon an der 37. Biennale Venedig mit der ersten Übersichtschau seines Werks begann. Schon damals hat er sich mit der Institution des Museums auseinandergesetzt. Gerz hat immer den Auftrag der Kunst – auch der eigenen – hinterfragt.

Die Öffentlichkeit ist für den Deutschen, der seit 1958 im Ausland lebt, das Ergebnis sozialer Kreativität: das Werk von allen. Nicht das Werk der "happy few" im Gegensatz zu denen, die konsumieren oder verwaltet werden. Folgerichtig hat er immer wieder den Weg auf die Straße gesucht. Die gesellschaftliche Rolle der Autorschaft ist das zentrale Motiv seiner Arbeit, in seinen Fotos/Texten, in den Performances und Installationen, in den seit Jahrzehnten international diskutierten Erinnerungsarbeiten (counter-monuments), bis hin zu den Autorenprojekten, an denen sich über die Jahre tausende Menschen in vielen Ländern beteiligt haben. Die "Emanzipation des Betrachters" ist für Jochen Gerz keine Utopie, sondern eine Frage der Verantwortung für die Demokratie.


Jochen Gerz - The Walk
23. September 2018 bis 5. Mai 2019