Immobilität

Zwischen der mentalen, geistigen und konkreten physischen Mobilität scheinen die Verbindungen doch direkter, als vermutet. Bislang wurde angenommen, dass ein älterer, immobiler Mensch geistig rege sein konnte, dass sich also der eine Zustand nicht mit dem anderen deckte. Wenn man von einer „mobilen“ Gesellschaft spricht, meinen die meisten eine komplex organisierte Gesellschaft, deren Mitglieder viel unterwegs sind, „auf Achse“ sind, also „beweglich“, mobil. Fast niemand denkt an die geistige Beweglichkeit. Die Qualität des Denkvermögens, die sich in der geistigen Beweglichkeit äußert, scheint irrelevant.

Mit den sich häufenden Verkehrskollapsen, den zur Dauer gewordenen Staus bestünde aber Gelegenheit zu sinnieren, ob nicht doch nicht ein direkter Zusammenhang zwischen der geistigen Beschränktheit, dem kognitiven Unvermögen, der kreativen Leere und der Alltagsrealität herrscht. Die Verkehrsprobleme nehmen zu und lassen sich nicht mehr wegreden. Sie wirken sich drastisch aus, sie werden nicht nur indirekt zum negativen Kostenfaktor, sondern direkt. Die Belastungen der Volkswirtschaft werden neben denen der Einzelnen, den „Betroffenen“ bzw. Verursachern, allein weil sie verkehren, unangenehmer, Energie raubender, teurer.

Als kürzlich in der Bundeshauptstadt wieder einmal eine Oberleitung riss, gleich an zwei Stellen, standen viele Züge still. Die durchorganisierten ÖBB, die sich brüsten modern geworden zu sein, waren nicht in der Lage, die technische Panne rasch zu beheben. Vor allem waren sie aber, wie gewohnt, überhaupt nicht in der Lage, adäquat zu informieren, zu kommunizieren. Züge mussten umgeleitet werden, doch die korrekte Information dazu wurde nur mangelhaft geliefert. Die telefonische Nachfrage half auch nicht, weil das dort beschäftigte Personal selbst nicht so informiert war, korrekte Auskunft zu geben. Ich konnte bzw. musste mich selbst von diesem Missstand überzeugen.

Gleichzeitig ereignete sich ein technische Schaden, wie er auch so oft eintritt, dass man sich fast daran gewöhnt hat, bei den Wiener Linien im U-Bahn-Bereich, so dass Tausende zur Immobilität gezwungen wurden. Der heißgeliebte Privatverkehr mit dem Auto bot überhaupt keine Chance zur Ausweiche, weil das Straßennetz die Ströme nicht verteilen konnte. Dieses Straßennetz ist auch ohne erhöhtes Verkehrsaufkommen den Anforderungen nicht gewachsen. Schwillt, aus welchen Gründen auch immer, das Verkehrsaufkommen an, erfahren die Verkehrsteilnehmer den Kollaps des Systems.

Das alles ist keine Überraschung, tritt immer wieder auf. Man schimpft, macht aber weiter. Fast wie unter Wiederholungszwang. Nur die Zuspitzungen, wenn auch die Bahn nicht mehr fährt, die U-Bahn blockiert ist, die Ausweichrouten fehlen oder verstopft sind, zeigen drastisch, was uns nächstens erwartet, wenn wir weiter geistig so immobil die Mobilitätsfrage beantworten wie bisher.

Während die Gesundheitsvorsorge bemüht ist, das Verständnis in der Bevölkerung über gewisse Zusammenhänge von „Lebensarten“ und Krankheiten zu wecken und zu stärken, dass also die Art der Ernährung und geringer bzw. einseitiger Bewegung sich in vielen Fällen im erhöhten Risiko von Krankheiten bzw. Infarkten auswirkt, gelingt es der Politik, den Medien und Bildungseinrichtungen nicht, dieses Verständnis für den „kollektiven Organismus“ Gesellschaft zu etablieren bzw. zu vertiefen. Dabei kann man die Kosten für „Systemschäden“, die sich durch erzwungene Immobilität einstellen, berechnen. Sie sind enorm hoch.

Das Bild vom Organismus ließe sich weiterdenken. Je komplexer das gesellschaftliche Gefüge, desto mehr bedarf es dessen, was wir heute „vernetztes Denken“ nennen. Und natürlich entsprechendes Verhalten, von diesem vernetzten Denken geleitet. Hier wirkt sich die geistige Immobilität dramatisch negativ aus, weil die Mehrheit eindimensional denkt, bzw. weil vor allem die „Entscheidungsträger“ entweder kein komplexes Denkvermögen haben oder, falls doch, wider besseres Wissen, weil auf kurzfristige Erfolge programmiert, was ihnen die Pfründe und Profite sichert, sich in ad hoc Aktionen verausgaben oder inadäquate Konzepte umsetzen.

Die lähmende Wertekrise, die die Basis für die kostenintensiven Krisen bildet, stellt dies eindrücklich unter Beweis. Die Unfähigkeit für Alternativen und Korrekturen steuert auf eine Systemunbeweglichkeit zu, die über kurz oder lang zum großen gesellschaftlichen Kollaps, zum Infarkt führen muss.