Hubert Berchtold - Ein authentisches Vermächtnis

Wie ist das Oeuvre eines Künstlers, der seit drei Jahrzehnten nicht mehr unter den Lebenden weilt, aus heutiger Sicht zu betrachten? Seine Bilder haben dreißig Jahre lang weiter gelebt, Moden, Stilrichtungen, Phasen des Vergessens und der periodischen Wiederentdeckung überdauert und werden dies auch in Zukunft tun. Wie viel haben diese Werke noch mit ihrem Schöpfer gemein? Haben sie sich in diesen drei Jahrzehnten verselbständigt, von ihrem Urheber abgenabelt und ordnen sich nun, erwachsen geworden, bestätigt durch die Zeit, organisch in die österreichische Kunstgeschichte ein?

1974, als Oskar Sandners Monographie über Hubert Berchtold erscheint, wird die Malerei gerade wieder einmal totgesagt, obwohl sie nicht lange danach, Anfang der 1980er Jahre mit den "Neuen Wilden" und zwanzig Jahre später mit dem Künstlerkreis um Neo Rauch einen sensationellen Aufschwung erfährt. Ist die Malerei also unsterblich? Ist sie unvergänglich, weil sie als zutiefst menschliches Ausdrucksmittel seit der Höhlenmalerei untrennbar mit dem Menschsein verbunden ist? Ist sie nicht kleinzukriegen, nicht auszulöschen, weil sie einen unersetzbaren Teil der menschlichen Identität ausmacht?

So wurde sie von der Psychologie als direkter Zugang zu Seele und Unbewusstem erkannt. Immer wieder ist es die Malerei, dieses kapriziöse Geschöpf, das die Lager der Kunsthistoriker und Künstler spaltet, die Emotionen hochgehen lässt, Diskussionen auslöst, in denen es immer aufs Neue um die Schlüsselfrage geht, ob die Malerei, marktabhängig ihre Bedeutung beibehält und somit weiter bestehen bleiben kann oder nicht. Für jeden schöpferischen Menschen, der sich über das Medium Malerei ausdrückt, ist diese Frage letztlich unerheblich, da er gar keine andere Wahl hat, als das zu tun, was seinem innersten Impetus entspricht: zu Malen. Und so ein Mensch war Hubert Berchtold.

Im zweiten Weltkrieg, mit deutschen Besatzungstruppen in Belgien stationiert, ermöglichen ihm glückliche Umstände, mit Malerei in Berührung zu kommen. Er lernt den Künstler Constant Permeke kennen, der ihm den Zugang zur belgischen, zeitgenössischen Kunst und zum Unterricht an der Akademie von Antwerpen öffnet. Wiederholt wird in der Literatur Constant Permeke als Vorbild Berchtolds genannt. Nichtsdestotrotz fehlen in Berchtolds frühen Arbeiten die für den Belgier typischen, schweren, kubischen Formen. Möglicherweise versucht er die Gefahr des Epigonentums zu umgehen, indem er eine differenzierte, kleinteilige Formulierung vorzieht.

Wenn in diesen Anfangszeiten nicht Permekes Formensprache in Berchtolds Bilder einfließt, so doch das dunkle Farbspektrum, das nicht nur für den Belgier typisch ist, sondern für die gesamte nordeuropäische Malerei. In Wien findet Hubert Berchtold diese tonige Farbpalette bei Josef Dobrowsky wieder, zu dessen Privatschüler und Akademiestudent er avanciert. Da das künstlerische Fundament des jungen Vorarlbergers zu dieser Zeit noch nicht gefestigt ist, besitzt Dobrowsky großen Einfluss auf ihn. Seine künstlerischen Spuren sind in Berchtolds Frühwerk unmittelbar zu erkennen. Die melancholische Stimmung und gedeckte Farbgebung in den Landschaften aus der Akademiezeit erinnern an Josef Dobrowskys Schilderungen karger Felder und von Restschnee bedeckter Landstriche im Vorfrühling.

Das Formenvokabular Permekes setzt sich erst in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre in großformatigen Ölbildern des Künstlers durch. In seinen weiblichen Akten spiegelt sich der ungekünstelte, zutiefst menschliche Ausdruck der kolossalen, behäbigen Figuren Permekes wieder. Details wie Armhaltung, Neigung des Kopfes nach rechts, sowie die bäuerlichen Züge der grobknochigen Gesichter wirken bei Berchtold nach und finden sich in weiterentwickelter Form in den figuralen Arbeiten der 1970er Jahre wieder. Über den Einfluss des flämischen Expressionismus hinaus zeigt sich in diesen frühen Jahren auch eine Parallele zu George Rouaults Akten aus der Zeit um die Jahrhundertwende. Wie dieser Maler aus dem Kreis der "Ecole des Paris", der den Vorarlberger beeinflusst, will auch Hubert Berchtold keine bestimmte Person darstellen, sondern vielmehr einen Typus, den zeitlosen Menschen.

Herbert Boeckl, verkörpert die dritte, impulsspendende Persönlichkeit in der Frühphase der künstlerischen Entwicklung Berchtolds. Er leitet den Abendakt an der Akademie der Bildenden Künste in Wien. Sein Charaktertypus entspricht, ähnlich dem Permekes, mit seiner Vitalität, Sinnlichkeit und Erdigkeit, Berchtolds eigener Temperamentslage. Herbert Boeckls rege Reisetätigkeit ist Teil seiner Philosophie, die er mit Nachdrücklichkeit an seine Studenten weitergibt. Er empfiehlt, alte Kunst insbesondere in Ägypten, Kreta und Spanien am Original zu studieren. Hubert Berchtold fällt es nicht schwer, dem Beispiel des Akademieprofessors zu folgen, er lässt sich sein ganzes Leben lang durch zahlreiche Reisen und Auslandsaufenthalte von fremden Kulturen und Landschaften inspirieren. Es scheint, dass er immer wieder die mediterrane Sonne sucht, um zu jenem Gefühlsreichtum vorzudringen, der tief in seinem Inneren angelegt ist und vehement nach schöpferischem Ausdruck verlangt. Für Berchtold ist Boeckls Werk aus den frühen 1920er Jahren interessant, da Boeckl mit diesen Bildern an die Grenzen der Abstraktion stößt und ihn somit anregt, ein grundsätzliches Problem zu berühren, das jeder Maler einmal in seinem Leben für sich ausloten muss: Die ganz persönliche Grenzdefinition zwischen gegenständlicher und abstrakter Darstellung.

Zwischen Hubert Berchtolds Leinwänden aus den 1950er Jahren und den Insekten- und Stadtlandschaften ab 1962 liegt ein so deutlicher künstlerischer Fortschritt, als hätte er gleich mehrere Entwicklungsstufen übersprungen. In diesen Jahren beginnt er damit, ein- und dasselbe Motiv zu variieren und seriell zu bearbeiten. Berchtold scheint sich mit jeder Serie erneut auf die Suche nach seiner ganz subjektiven Sicht der Dinge zu begeben. Zugunsten von Form und Struktur rückt er zunächst die Farbe in den Hintergrund, die sich jedoch im Laufe des folgenden Jahrzehnts ihren Platz entschieden zurückerobert. In seinen dynamischen Stilleben vermag Berchtold das "Tote" durch die Vehemenz seines Temperaments aufzuheben und mit Leben zu füllen, während sich die dargestellten Gegenstände in seinen statischen Naturae Mortae zusammenballen, dicht aneinander drängen, wie um sich zu schützen vor der allzu "lauten" Malerei der Zeit, wie Action painting und Informell.

Der Bezug des Künstlers zur Antike zeigt sich immer wieder in verschiedenen Zeitabständen, sowohl inhaltlich als auch formal. Die Tempel von Paestum und Selinunt, die Ruinen Pompejis, die Gräberstraße von Syracus werden zu Stilleben oder erheben sich aus üppiger Vegetation sonnendurchfluteter Landschaften. Berchtold bricht teilweise die Strenge der antiken Architektur und versetzt Säulen und Mauern in barocke Bewegung. Der ausdrucksstarke und kompositorisch dichte Zyklus "Huldigung an die Etrusker" drängt um 1971 in starkem, rotdominiertem Kolorit ins Bild.

Ab dem Jahr 1969 wendet sich Hubert Berchtold der weiblichen und männlichen Figur zu. Gleichzeitig fokussiert der Künstler seinen Blick auf die Dreidimensionalität, Raum wird Thema. Stillleben gehen in Akte über und umgekehrt. Menschliche Gestalten verharren ohne Bezug zueinander in abgetrennten Räumen oder werden zu geteilten bzw. zerteilten Figuren, Regenbogenfrauen locken sirenenhaft die Betrachter ins Bild, Paare drängen ihre Körper aneinander. Es sind gesichtslose Wesen, Typen, reduziert auf die Essenz des Menschlichen, jedoch ohne formelhaft zu erscheinen, getragen von erdhafter, konkreter Sinnlichkeit und Fleischlichkeit.

"Wenn du sehen könntest wie Andalusien ist! Um gehen zu können, muss man Gänge durch das goldene Licht bauen ..." schwärmt der spanische Schriftsteller Garcia Lorca von seiner Heimat. Hubert Berchtold findet im andalusischen Ronda ein Atelier und malt Flamenco-, Stierkampfszenen, Landschaften, Dorfansichten und einen Zyklus von Höhlenbildern, in welchem ein so erstaunlicher Zusammenklang zwischen der informellen Formulierung Berchtolds und der prähistorischen Zeichensprache der Höhlenmalereien entsteht, dass die zeitliche Distanz aufgehoben und der Kreis geschlossen scheint. Die Höhle als Sinnbild des Urweiblichen, als Geheimnis und Tor zum Jenseits dürfte den Künstler bereits im Zusammenhang mit den etruskischen Grabkammern beschäftigt haben, die einige Meter unter der Erdoberfläche liegen. Mit seinem "Hundezyklus" zeigt Berchtold engagiert den wesentlich ungeschminkteren Tiermord als er im Stierkampf zelebriert wird. Mehrmals pro Jahr fand damals in Ronda die Abschlachtung streunender Hunde statt, die kein euphemistisches Ritual tarnte. Berührende, bestürzende, verstörende Bilder entstehen.

In seinem letzten Schaffensabschnitt widmet sich Hubert Berchtold, parallel zu seinen figürlichen Arbeiten der Landschaft, deren Darstellung ihn bis an die Grenzen der Abstraktion trägt. Natur verschmilzt mit Körpern, Felsformationen türmen sich über der Brandung windumtoster Küstenstreifen, V-förmige Taleinschnitte reihen sich an Kornfelder, karge Hochebenen wechseln mit Strandstilleben. Und immer wieder ist es das Meer mit seiner exotischen Flora und Fauna, das ihn fasziniert. In den letzten vier bis fünf Schaffensjahren nimmt die Abstrahierung Schritt für Schritt, unter jeweiliger Steigerung der expressiven Mittel, zu.

Ab 1982 greift der Künstler vermehrt heimatliche Sujets auf. Düstere Winterlandschaften entstehen, Gletscher zerbrechen in ein Gewirr von Spalten, Eistürmen und Eisschollen. Der Mensch ist nicht Teil dieser elementaren Naturgewalten. Einsame Weiten verschmelzen am Horizont mit einem kalten, eiszeitlichen Himmel, indifferent, ohne Trost. Inwieweit diese kraftvollen Gouachen und Ölbilder der dunklen Stimmung einer inneren Landschaft nachempfunden sind, bleibt Spekulation. Die Tendenz zu harten, scharfen Formen kommt jetzt uneingeschränkt zum Ausdruck. Die Bilder sind von den typischen Farben, die Berchtold in seiner Spätphase verwendet, bestimmt: Violett, Blau, Grün, Kalkweiß und, zu einem geringen Teil, Ocker. In den letzten Monaten kehrt Hubert Berchtold seinen Blick mehr und mehr nach innen, sein Pinsel rast nicht mehr gehetzt, suchend über Papier und Leinwand, er kommt zur Ruhe, taucht vorsichtig ein in die Farbe Rot, die Farbe des Blutes, Symbol des Lebens. Somit kehrt er zurück zum Ursprung, zu den Wurzeln, dorthin, wo alles beginnt und alles endet, wo alles eins ist.

Dreißig Jahre nach dem Tod Hubert Berchtolds sind seine Bilder in ungebrochener Lebendigkeit und Intensität erhalten. Sie sind ein authentisches Vermächtnis, das Substrat eines menschlichen Daseins aus all seinen gefühlsmäßigen, geistigen, körperlichen Facetten, komprimiert in Kunst. In diesem Sinn bleibt ein verstorbener Maler in seinem Werk immer lebendig und für diejenigen, die ihn persönlich gekannt haben, nicht nur als Künstler, sondern auch als Mensch spürbar. Hubert Berchtolds Bilder haben ihren Platz in der österreichischen Kunstgeschichte gefunden, nicht nur als spannendes Dokument ihrer Zeit, sondern als unverwechselbares, organisches Ganzes, das sich nahtlos in die lange Kette der bildnerischen Tradition Österreichs einfügt. Angelika Stimpfl

Hubert Berchtold
5. Juli bis 18. August 2013