Hirschfaktor. Die Kunst des Zitierens

Jede kulturelle Produktion wie Kunst, Literatur, Musik, Philosophie entsteht im Kontext einer Tradition – selbst wenn sie mit ihr bricht. KünstlerInnen verweisen in ihrer Kunst auf eigene Werke, viel häufiger jedoch auf die anderer KünstlerInnen. Wie wird dieser Bezug sichtbar? In welcher Form zeigen sich diese Zusammenhänge und welche "Grundbilder" fließen in die künstlerischen Arbeiten ein? Die Ausstellung "Hirschfaktor. Die Kunst des Zitierens" untersucht anhand einer Auswahl charakteristischer Werke, wie sich künstlerisches Schaffen und die Strategien von KünstlerInnen im Laufe der letzten Jahrzehnte verändert haben.

Die Kunst vergangener Jahrhunderte richtete sich oftmals an den weltgewandten Connaisseur, der die künstlerischen Anspielungen in einem Werk erkannte. Aufgrund seiner Bildung verstand er die verwendeten Zitate und ließ sich durch das Werk gleichzeitig sein eigenes Wissen bestätigen. Im 20. Jahrhundert ist der Kanon der "zitierfähigen" Vorlagen zugunsten einer Vielzahl an Zitatvorlagen aus der gesamten menschlichen Lebenswelt erweitert worden.

Das Zitat kann als die wichtigste Form der Aneignung im künstlerischen Schaffensprozess angesehen werden. Es reicht von der subtilen, auf einen Künstler/ eine Künstlerin bzw. ein bestimmtes Werk hinweisenden Verwendung von Farb- oder Formelementen bis hin zur Appropriation Art, die bereits bestehende Kunstwerke noch einmal "neu" erschafft. Die Strategie des Zitierens ist dabei als Teil einer kritischen Auseinandersetzung mit der Rezeptionsgeschichte bestimmter, oftmals stilprägender Situationen zu verstehen. Was wurde aus den ehemaligen künstlerischen, gesellschaftlichen oder politischen Vorstellungen und Absichten, mit denen ein Kunstwerk konnotiert war oder noch ist? So durchläuft die eine oder andere Ikone der Moderne zuweilen mehrere Medien, bis sie in und mit einem neuen Werk wieder in den Kunstkontext zurückkehrt. Ironie und Humor sind dabei oftmals Begleiter der neuen, diskursiven Setzungen der KünstlerInnen.

Die Feststellung, dass "am Grunde des Bildes bereits ein Bild ist" (Peter Weibel, 1995) hatte vor allem für die Kunst der Postmoderne eine besonders wichtige Bedeutung. Heute ist diese Erkenntnis eine selbstverständliche Quelle künstlerischen Schaffens. Dabei entstammen die "Grundbilder" des 21. Jahrhunderts zunehmend kunstfernen Kontexten und sind vor allem der Sphäre von Konsum und Design entlehnt. Die Frage nach Stil-, Form- und Motivvorlagen rückt in den Vordergrund.

Der Begriff des sogenannten "Hirsch-Faktors" im Titel der Ausstellung wird hier aus der Wissenschaft entlehnt: Benannt nach dem amerikanischen Physiker Jorge Hirsch, wird der Faktor aus der Schnittmenge der Anzahl der Publikationen eines Wissenschaftlers/ einer Wissenschaftlerin und der Menge der daraus verwendeten Zitate errechnet. Der "Hirsch-Faktor" gibt damit den "Wert" des Wissenschaftlers oder der Wissenschaftlerin wieder.

Im Gegensatz zu dieser Methode des wissenschaftlichen Rankings geht es in der Ausstellung jedoch nicht darum, zu ermitteln, wie oft etwa Kasimir Malewitschs "Schwarzes Quadrat" in der Kunst zitiert worden ist. Im Fokus der Ausstellung steht vielmehr eine Präsentation der unterschiedlichsten Modi künstlerischer Aneignung von Stilen, Formen oder Motiven, der Verwendung von Materialien, sowie von Vorlagen aus der Populärkultur, aus der Warenwelt, der Kunst, der Politik etc.

Im Zuge der Diskurse um den Originalitätsanspruch von Kunstwerken und der Rolle des Autors/ der Autorin fanden in den 1970er-Jahren zahlreiche Ausstellungen zu den Themen Original, Nachbild, Zitat und Kopie statt. Vor dem Hintergrund einer Bilderflut und der gleichzeitigen Verdichtung von Zitaten in der aktuellen Kunst bietet das ZKM Karlsruhe anhand einer Auswahl von signifikanten Werken aus den mit dem ZKM Museum für Neue Kunst kooperierenden Sammlungen einen neuartigen Blick auf dieses Thema.

Gegliedert ist die Ausstellung entsprechend der Quellen der Zitate aus Kunst, Design, Politik, Religion, Werbung und Konsum, wobei Überschneidungen dem Wesen der aktuellen Kunst entsprechen. Zur Vermeidung einer eindimensionalen Lesart wird auf eine Kennzeichnung der Bereiche in der Ausstellung bewusst verzichtet. Den BesucherInnen bietet sich mit "Hirschfaktor. Die Kunst des Zitierens" die Möglichkeit, in einem faszinierenden Spektrum von Bildfindungen ebenso Neuentdeckungen zu machen wie Vertrautem zu begegnen.

Hirschfaktor. Die Kunst des Zitierens
22. Oktober 2011 bis 10. Februar 2013