Helen Thomas, Grande Dame

Helen Thomas, geboren 1920, verstarb gestern, 20. Juli 2013, im 93. Lebensjahr. Sie war zu einer anerkannten, gepriesenen Ikone der Presse geworden, einer Institution; ihre Karriere war beispiellos, wie ihr abruptes, schmähliches Ende, das klar und deutlich aufzeigte, wie rigide und inhuman, wie verlogen, die politisch korrekte Gesellschaft in den USA ist.

Gegen Ende ihrer Laufbahn, mit 89 Jahren, immer noch aktiv, alert und überaus kritisch, wurde ein spontaner Satz ihr zum Verhängnis. Als Helen Thomas das Weiße Haus nach einer Festveranstaltung des Jewish American Heritage Month am 27.5.2010 verließ, wurde sie von einem Jugendlich, der offensichtlich Videointerviews führte, unter anderem gefragt „Any comments about Israel? We’re asking everybody today – any comments about Israel?“ Und die alte Dame antwortete spontan „Tell them to get the hell out of Palestine.“ Sie legte für amerikanische Ohren noch eins drauf und bemerkte ruhig, dass die Palästinenser in einem okkupierten Land leben, dass sie (die Israelis) zurück, „heim“ sollten, raus aus dem okkupierten Land.

Das kurze Interview wurde von Rabbi David Nesenoff (der Interviewer war sein Sohn Adam) auf seiner Internetseite RabbiLIVE.com verbreitet, und zündete wie eine Bombe. Die Reaktionen, mit ganz wenigen Ausnahmen, waren nicht nur negativ, sondern so einhellig verurteilend, wie nach einem Massenmord.

Helen Thomas hatte viele Auszeichnungen erhalten, genoss trotz ihrer Kritik einen Ruf, der es ihr erlaubte, mit allen wichtigen Persönlichkeiten in Kontakt zu treten bzw. bei den Pressekonferenzen im Weißen Haus in der ersten Reihe sitzend immer gefragt und gehört zu werden, auch wenn sie damit öfters für Irritationen sorgte, weil sie fast die einzige war, die bohrend weiterfragte. So verfolgte sie George W. Bush mit der wiederholten Frage „Warum sind wir im Irak?“ Sie gab nicht nach. Sie hielt Vorträge, schrieb Bücher, vertrat ihre Meinung in ihren Kolumnen. Man kritisierte sie, aber alles blieb im Rahmen. Amerika pflegt die freie Meinungsäußerung und ist stolz auf sein First Amendment.

Doch dann beging sie den Sündenfall, der sie aus dem Paradies vertrieb. Sie verlor innert weniger Tage ihre Stellung, ihre Funktion, ihre öffentliche Anerkennung. Sie war, für die Einflussreichen und die Mehrheit, zur Unperson geworden, zum Outcast. Sie wurde verachtet. Rabbi Nesenoff hatte gleich ihren damaligen Arbeitgeber, Hearst Media telefonisch über das Video informiert und ihre Entfernung gefordert. Das freie Medienunternehmen kam dem sofort nach. Ihre Agentur weigerte sich, sie weiter zu vertreten und zu vermitteln, ihr Ko-Autor Craig Crawford, mit dem zusammen sie das Buch „Listen up, Mr. President“ verfasst hatte erklärte öffentlich und feierlich, dass er nie mehr mit ihr zusammenarbeiten werde, ihre geplante Commencement speech an der Walt Whitman High School in Bethesda wurde ebenfalls sofort storniert, ihre Alma Mater, die Wayne State University, die ihr zu Ehren im Jahr 2000 den „Helen Thomas Spirit of Diversity Award“ stiftete, löste diesen Ehrenpreis auf, weil er durch die Affäre untragbar geworden sei.

Neben den vernichtenden Aburteilungen und Reaktionen äußerten sich auch Verteidiger, die versuchten, die Sache in korrekten Proportionen zu sehen und nicht der instrumentalisierten Hysterie zu folgen. Doch das Establishment und die von ihm beeinflusste Mehrheit war und blieb beim Verdikt, bei der Ächtung. Im August 2010 verlautbarte das Arab American National Museum of Dearborn, Michigan, den Plan, eine Statue zu Ehren Helen Thomas’ im Museum zu platzieren, was zu wütenden Protesten führte. Eine Gruppe von Holocaust-Überlebenden verurteilte diesen Plan und betonte, es sei unmoralisch Helen Thomas zu ehren, weil „American values are at stake“.

Die amerikanischen Werte. Auf ihnen baut die freie Welt auf. Aber diese amerikanischen Werte werden offenbar nicht befleckt und beeinträchtigt durch den bislang einzigen Atombombeneinsatz, der gleich zweimal erfolgte (die höchstentwickelte Form der Massenvernichtung), durch die Kriege im Irak und Afghanistan, von den vielen anderen Kriegen, die die USA initierten und finanzierten, ganz zu schweigen.

Sie werden auch nicht konterkariert durch die größte, umfangreichste, lückenloseste Ausspähung nicht nur eigener Bürger und Institutionen, ausländischer Krimineller und Terroristen, sondern ganzer Bevölkerungen auch „befreundeter“ Staaten, ja diese selbst, z. B. Einrichtungen der Europäischen Union usw. Das alles passt in den Rahmen der „American values“.

Nur eine Kritik an der amerikanischen Außen- und Kriegspolitik, an Israel und seiner permanenten Okkupationspolitik, passt nicht hinein. Die ist ein Sakrileg. Damit überschreitet man eine Grenze, die führt zur Exkommunikation.

Der Unterschied zu totalitären Diktaturen? Helen Thomas wurde nicht physisch hingerichtet oder ins Gefängnis gesteckt, wie in Russland oder einem anderen „Schurkenstaat“. Immerhin ein Fortschritt, nicht?

Thomas meinte damals in einem Interview: „I hit the third rail. You cannot criticize Israel in this country and survive.” Wie wahr!

Neben den diplomatisch formulierten Nachrufen des offiziellen Amerika gibt es auch einige dankbare, positive, von Exkolleginnen vor allem, Exkollegen und einigen selbst kritischen Aktivisten, Journalisten und Professoren. Ralph Nader, der sie damals schon, entrüstet über die Hexenjagd, verteidigt hatte, meinte im radikalen COUNTERPUNCH „The last fearless reporter: There will never be another Helen Thomas“.