Gottfried Keller – Der träumende Realist

2019 jährt sich zum 200. Mal das Geburtsjahr des grossen Zürcher Schriftstellers Gottfried Keller. Die Ausstellung im Strauhof legt dar, wie Traum und Phantasie Kellers poetische Inspiration beflügeln. Und wie es ihm zugleich gelingt, diese Urkräfte formal zu bannen. Der erste Teil ist Kellers künstlerischem Werdegang und der Verzahnung zwischen Werk und Biografie gewidmet. Im zweiten Teil werden, nach aktuellen Statements zu Gottfried Keller, einzelne zentrale Aspekte – von seinen Portraits und seinen Beziehungen zu Frauen bis zu seinen Träumen und Märchen – vertieft.

Gottfried Keller war nicht nur einer der bedeutendsten Schweizer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts. Mit seiner erzählenden Prosa zählt er zur Weltliteratur. Als Sohn eines Drechslermeisters und einer Arzttochter kam er am 19. Juli 1819 in Zürich zur Welt; am 15. Juli 1890 verstarb er in seiner Heimatstadt. Als Fünfjähriger verlor er den Vater. Eine höhere Schulbildung wurde ihm aufgrund eines Bubenstreichs verwehrt. Er trat eine Lehre an, weil er Landschaftsmaler werden wollte, und zog zur Ausbildung nach München. Nach zwei unglücklich verbummelten Jahren dort kehrte er verschuldet und gescheitert nach Zürich zurück. Dort entdeckte er seine dichterische Begabung und engagierte sich auch politisch als Liberaler. Der Vormärz prägte sein Denken, die Neuordnung der Schweiz, wie sie 1848 erfolgte, lag ihm am Herzen.

Mit einem Stipendium der Zürcher Regierung reiste er 1848 nach Heidelberg und 1850 weiter nach Berlin. Er studierte Geschichte und Staatswissenschaften, wollte Dramatiker werden, schrieb stattdessen aber den ursprünglich in vier Bänden erschienenen Roman "Der grüne Heinrich", den er als 36-Jähriger in äusserster existenzieller Not vollendete, und die Novellen "Die Leute von Seldwyla". Sieben Jahre verbrachte er in Deutschland. 1855 kehrte er nach Zürich zurück. Inzwischen war er als Schriftsteller bekannt und anerkannt. Eine bürgerliche Existenz hatte er aber immer noch nicht. Das änderte sich erst, als er 1861 zum Ersten Staatsschreiber des Kantons Zürich berufen wurde.

Dieses Amt versah er fünfzehn Jahre lang mit höchster Gewissenhaftigkeit. Zum Schreiben kam er in dieser Zeit nur sporadisch. Immerhin publizierte er während seiner Amtszeit die "Sieben Legenden" und den zweiten Teil der "Leute von Seldwyla". 1876, im Alter von 57 Jahren, legte er sein Amt nieder, um sich wieder ganz dem Schreiben zu widmen. In den folgenden Jahren verfasste er die "Züricher Novellen", die zweite, grundlegend überarbeitete Fassung des "Grünen Heinrich", den Novellenzyklus "Das Sinngedicht" sowie den Roman "Martin Salander".

Sein Leben als Hagestolz war nicht geplant. Mehrmals war Keller heftig verliebt. Er wünschte sich Frau und Familie. Doch alles endete im Unglück, eine Verlobte brachte sich um. Am Ende blieb er allein, mit der sparsamen und griesgrämigen Schwester als Haushälterin. Er liess indes, und das macht seine Grösse mit aus, die Welt nicht für sein Ungemach büssen. Herzlich und aufmerksam blieb er ihr zugetan. In Heidelberg hatte er unter dem Einfluss Ludwig Feuerbachs vom Gottes- und namentlich vom individuellen Unsterblichkeitsglauben Abschied genommen. Im Bewusstsein der Vergänglichkeit erstrahlte ihm die Welt umso schöner.

Einerseits war er ein geselliger Mensch: ein verlässlicher Beizengänger, wenn auch ein schweigsamer. Mit etlichen seiner Zeitgenossen stand er in lebhaftem Briefkontakt: Mit Marie und Adolf Exner, Theodor Storm, Wilhelm Petersen, Emil Kuh, Paul Heyse und vielen anderen. Seine bald umwerfend lustigen, bald erschütternden Briefe zählen für uns Heutige zum Glutkern seines Werks, während wir in seiner Lyrik recht fleissig tauchen müssen, bis wir die (durchaus vorhandenen!) Perlen entdecken. Als Baumeister der modernen, demokratischen Schweiz hat Keller nicht so sichtbar wie Alfred Escher gewirkt, aber gleichwohl höchst nachhaltig. Seine Grundsätze waren unerschütterlich, sein Menschenverstand blieb gesund. Gegen Ressentiments wie schon damals grassierende antisemitische Regungen war er gefeit wie kaum ein anderer.

Kellers Werk ist in zahlreichen Werk- und Einzelausgaben lieferbar. Mass aller Dinge ist natürlich die Historisch-Kritische Ausgabe in 35 Bänden, die 1997 bis 2012 in Zürich erschienen ist. Sie richtet sich indes in erster Linie an Wissenschaftler. Frühere Werkausgaben wie jene des Deutschen Klassiker Verlags, von Hanser und Winkler erfüllen ihren Zweck ebenfalls. Nicht vergessen werden soll auch die grundlegende Ausgabe von Fränkel/Helbling, Bern 1939 bis 1949.


Gottfried Keller – Der träumende Realist
1. März bis 26. Mai 2019