Goldene Palme für Michael Haneke - Cannes-Resumée

28. Mai 2012
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Cannes 2012: Die Würfel sind gefallen. Die diesjährige Goldene Palme des Filmfestivals von Cannes geht an Michael Haneke für "Amour". Die Jury unter der Präsidentschaft des italienischen Filmemachers Nanni Moretti entschied sich, dem österreichischen Regisseur nach "Das weisse Band" (2009) für sein brisantes Drama um das Älterwerden ein zweites Mal die Goldene Palme zu verleihen. - Doris Senn kommentiert die Preisverleihung.

Damit geehrt werden nicht zuletzt auch die Leistungen der altgedienten großen Schauspieler Jean-Louis Trintignant und Emmanuelle Riva. Der 82-jährige Trintignant spielt darin Georges, der sich fürsorglich um seine zunehmend demente Frau Anne kümmert, die von der 85-jährigen Emmanuelle Riva dargestellt wird. Diese hatte ihre allererste Kinorolle 1959 in Alain Resnais Kultfilm "Hiroshima mon amour". Hanekes "Amour" zeigt insbesondere den Zerfall von Annes Persönlichkeit durch die Krankheit – und die zunehmende Überforderung seitens George, der ihr das Versprechen gab, sie bis in den Tod zu begleiten.

Die favorisierten Titel "Jagten" des ehemaligen Dogma-Regisseurs Thomas Vinterberg und "Beyond the Hills" des Rumänen Cristian Mungiu wurden beide je für die darstellerischen Leistungen der Protagonisten ausgezeichnet: Der Preis für den besten männlichen Darsteller ging an Mads Mikkelsen, der erstmals mit Vinterberg zusammenarbeitete und herausragend agiert in seiner Rolle als fälschlich der Pädophilie verdächtigter Lucas.

Während die Auszeichnung für die beste weibliche Darstellerin zum Doppelpreis wurde und an die beiden Jungschauspielerinnen Cosmina Stratan und Cristina Flutur ging, die in "Beyond the Hills" beide ihre erste große Rolle in einem Film spielten. Mungius eindringlicher Film über zwei Freundinnen, von denen die eine durch die Peiningungen eines Exorzismusrituals ihr Leben verliert (ein Fait divers aus dem Rumänien 2005!), wurde außerdem mit dem Preis für das beste Drehbuch ausgezeichnet.

Für seine leichtfüßige Komödie "Angel"s Spare" um eine Reihe Underdogs, die im Kreise von Whysky-Connaisseuren einen kleinen Coup landen, was zumindest einem von ihnen – Robbie – die Möglichkeit gibt, sich in ein Leben mit Zukunft hineinzukatapultieren, erhielt Ken Loach verdienterweise den Preis der Jury und damit seine dritte Auszeichnung in Cannes.

Doch die Jury sorgte mit ihren Entscheidungen auch für Verwunderung: zum einen, indem sie den Großen Preis der Jury an "Reality" von Matteo Garrone verlieh – ein Film, der zum einen die Verblendung des TV-Publikums für Formate wie "Big Brother" aufs Korn nimmt, und dies in der Tradition der "commedia all"italiana" der 50er- oder 60er-Jahre tu. Beides gelingt Garrone ("Gomorra") nur ansatzweise – um nicht zu sagen, misslingt ihm recht eigentlich, verliert er doch im Lauf des zweistündigen Films sowohl die politische Kritik als auch die Dramaturgie aus den Augen.

Die zweite "Überraschung" seitens der Jury war der Preis für die beste Regie (!) an den sperrigen Außenseiter "Post tenebras lux" des mexikanischen Regisseurs Carlos Reygadas. Sein außerordentlich schwer zugänglicher Film dreht sich um eine Familie aus der Stadt, die sich mitten in der mexikanischen Pampa niederlässt und mit einer ungezähmten Natur konfrontiert wird.

Daneben stehen Szenen aus dem Rahmen eines bourgeoisen Familienclans oder eine animierte Teufelfigur, die nachts als rotes Lichtgespenst durch die Zimmer des Hauses schleicht. Vom Regisseur als autobiografisches Werk und als "expressionistisches Gemälde" bezeichnet, präsentiert sich "Post tenebras lux" vor allem aber als verschlüsseltes und mysteriöses Werk, das mit seiner Fischaugenästhetik, die einen Grossteil der Bilder prägt, einen verstörenden Manierismus zu Markte trägt.

So endet die Jubiläumsausgabe in Cannes mit einem im Allgemeinen hochstehenden, abwechslungsreichen Wettbewerb, in dem man zwar auch gut auf ein paar Titel hätte verzichten können (so enttäuschten insbesondere die US-Independent Produktionen – mit Ausnahme von Wes Andersons "Moonrise Kingdom"). Und es bleibt zu hoffen, dass das Festival von Cannes es sich im nächsten Jahr definitiv nicht mehr leisten kann und darf, einen Wettbewerb mit 22 Titeln aus aller Welt ganz ohne Regisseurinnen durchzuführen. Doris Senn