Global Village

Seit dem Zeitpunkt, da europäische Eroberer und Entdecker mit fremden Ethnien in Kontakt kamen, wurden exotische Gegenstände gesammelt und in die Heimatländer gebracht. Im Laufe der Jahrhunderte füllten sich auf diese Weise die Schatzkammern der damaligen Herrscherhäuser.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden die ersten Museen für Völkerkunde in Europa, und die Exponate gelangten aus den Raritätenkabinetts in die Öffentlichkeit. Hand in Hand mit der kolonialen Expansion und der Etablierung der Völkerkunde als Wissenschaft wurden gezielte Sammlungsreisen ausgerüstet, die den Bestand des ethnographischen Materials in Europa vergrößerten.

Die "Entdeckung" dieser Objekte als Kunstwerke ging aber nicht von der Ethnologie aus, die sich mehr dafür interessierte, in welchem kulturellen Kontext diese Werke entstanden. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren es die KünstlerInnen, die der westlichen Welt die Augen für den Formenreichtum und die Ästhetik der Objekte aus Afrika, Ozeanien und Altamerika öffneten. Im Mittelpunkt standen dabei Masken, Plastiken, edle Schmuck- und Ritualobjekte.

Größtenteils unbeachtet blieben aber über einen längeren Zeitraum Gegenstände, die nicht sofort als Produkte künstlerischen Schaffens auszunehmen waren. Es sind dies vor allem Objekte für den alltäglichen Gebrauch, die als Einrichtungsgegenstände, Hausrat oder Hilfsmittel für den Bodenbau Verwendung finden. Aus scheinbar unspektakulären Materialien gestalten die Handwerkskünstler aus den außereuropäischen Hemisphären wahre Kunstwerke, die als Dinge zum Sitzen und Liegen, als Aufbewahrungs- und Trinkgefäße oder als Gerätschaften für viele andere Zwecke dienen können.

Konsequent, grundsätzlich, radikal: Die DesignerInnen von heute greifen auf diese anonymen Entwürfe zurück, wenn sie nach fundamentalen Lösungen für ein Gebrauchsproblem suchen. Neue Materialien und Werkzeuge jedoch sorgen heute für eine andere Oberfläche, ein anderes Finish, eine andere Vision. In der Ausstellung "Global Village" stehen Ursprung und Moderne, ethnische Alltagsgegenstände und europäische Designklassiker, originäre Gestaltungsformen und zeitgenössische Variationen einander gegenüber und verweisen auf die Einflüsse anonymer Gestalter aus Afrika, Asien und Lateinamerika auf die europäische Moderne.

(Steck)Stühle sind sicher seit prähistorischen Zeiten in Gebrauch, obwohl ihnen eine durchaus komplexe Geometrie des Tragens und Lastens, des Drucks und des Zugs zugrunde liegt. Da man zur Herstellung solcher Möbel keine speziellen Kenntnisse erwerben musste, sind mögliche Funktionszuschreibungen pure Spekulation, und eine im buchstäblichen Sinn Erhöhung – wie z.B. die Haltung eines Herrschers – wird auf dieser Art Möbel auch nicht eingenommen. Wesentliches Moment ist also die Stützung des Rückens als individuelle Bequemlichkeit – ohne jede Symbolkraft. Von daher erscheint es auch gar nicht unwahrscheinlich, dass sich diese Grundform des zerlegbaren Möbels kaum in neueres Design hindurch erhalten hat; sie ist funktional schlicht durch bessere Lösungen des Faltens und Klappens, vor allem aber durch die hinzugefügte Nutzung von textilen Materialien ersetzt worden.

Bequemer als jeder Steckstuhl ist die Liege aus einem Stück, schön gerundet im Rücken, möglichst in zwei Ebenen zur besseren Lagerung wie zum Schutz der oder des Lagernden. Gleichzeitig ist die Bequemlichkeit nicht nur zu garantieren, sondern auch zu vermitteln, obendrein als Lagerstätte der Begierde – kein Wunder, dass sich heutige Designerinnen und Designer für ihr Leben gern mit dem Sofa, der Chaiselongue, der Recamière, überhaupt mit allem beschäftigen, was der Lust wie dem Liegen dient.

Die Tragekörbe der Frauen in Thailand mit ihren Schulterstücken sind Fortsetzungen der alten Praxis, schwere Lasten über ein Stirnband oder mittels einer Verschnürung am Körper besser fixieren und damit sicherer von einem Platz zum anderen bringen zu können. Daraus wird nach unendlichen Berechnungen, Simulationen, medizinischen Bildgebungsverfahren und schließlich im jahrelangen Praxistest ein System neuer Rucksäcke für lange Wanderungen oder für spezielle Sportarten und Kulturtätigkeiten, vom Rad(kurier)fahren bis zum Behältnis für Musikinstrumente. Das Getragene ist immer etwas Besonderes, denn sonst müsste es nicht transloziert werden; also sind auch Schulterstücke und Tragriemen oft genug in irgendeiner Weise verziert oder dekoriert, geben den Stolz über das Tragwerk selbst weiter.

Taschen, Körbe und Karren – das sind drei Entwicklungsschritte des Umgangs mit der Hebelkraft, und gerade an der Bewegung des Karrens lässt sich die wunderbare Frage nach dem Erfinder des Rades als dem Ursprung allen Designs so oft wie nutzlos stellen. Immerhin zeigt diese Geschichte, dass jedes gut eingeführte Design mit der Zeit anonym wird, dass der Gebrauch guten Geräts eben nicht den Ruhm des Erfinders mehrt, sondern die Qualifikation des Nutzers. Selbstverständlich leitet sich jede neue Form, jeder neue Gebrauch aus alten Formen und vor allem aus nonverbal überlieferten Traditionen her, die jedoch gern wissenschaftlich, also rational erkenntnistheoretisch legitimiert und sublimiert werden.

Dass man aus feinstachligen Pflanzenteilen oder Fischhäuten gute Reiben oder Raspeln machen kann, mit denen sich sonst kaum verwendbare Pflanzen pulverisieren und so als Gewürz-Speise verwenden lassen, gehört wohl zu den plötzlichen Erkenntnissen jeder ursprünglichen Kultur. Mit der Reibe – gerade in ihrer verfeinerten Version wie etwa dem japanischen Oroshigane aus Haifischhaut zur Herstellung von Wasabi-Paste – geht aber immer ein Wissen einher, das sowohl den Frauen zu Hause als auch den Hohepriestern einer Religion als Markierung der Grenze zwischen Leben und Tod diente: Zwischen Genuss und Gift liegt das Abwägen einer Menge, mit Paracelsus dann auch der Übergang zwischen Heilen und Morden. Dieses machtvolle Wissen ist an Gerätschaften gebunden, denn deren Einsatz initiiert den Umgang mit den pflanzlichen oder tierischen Grundstoffen; und wie der Trüffelhobel zeigen mag, ist dieses Gerät immer auch mit einer gesellschaftlichen Wertstellung verknüpft – die sich, ganz nebenbei, auch im Preis eines solchen Instruments ausdrückt.

Design ist immer ein Entwerfen von mindestens zwei gleichzeitigen Elementen: dem Gebrauch und der Emotion. Im Gebrauch ist schon das Wecken eines Bedarfs enthalten, und sei es als Ableitung aus dem sozialen Rang eines zuvor Gebrauchenden. In der Emotion steckt umgekehrt der rationale Kern der notwendigen Selbsterhöhung im sozialen Prozess. Der Soziologie Richard Sennett hat in seiner Eloge des Handwerks gerade den Erwerb von Fähigkeiten und Fertigkeiten auf ein implizites Wissen bezogen, das nicht sprachlich, sondern allein durch Dabeisein, Mittun und Kopieren vermittelt werde. Hier beginnt der Unterschied zum Design, denn dieses implizite Wissen hat einen ganz großen Nachteil: Es kann sich selbst nur minimal erneuern, jede Veränderung dauert Generationen, und die ganze Beschleunigung unserer globalen Kulturen während der letzten drei Jahrhunderte wäre ohne den Tod des alten Handwerks nicht voran gekommen.

Ein äußerlicher Vergleich von Formen – wie er in der Ausstellung "Global Village. Design – Ursprung und Moderne" auch vorgenommen wird – kann also nur dann Erkenntnis bringen, wenn er sich auf tiefere Ebenen des Verstehens beziehen läßt. Und da mag Marshall McLuhan tatsächlich der Pate des Gedankens von der globalen Dorf-Ding- Kultur ("global village") sein: Mit viel Mühe und Intelligenz kommt der Mensch immer wieder auf die einfachen Lösungen zurück, die er hinter sich hat lassen müssen, um mentalen, sozialen, historischen und ökonomischen Forderungen seines Leben begegnen zu können. Da treffen sich Stammeskultur und Design: Sie sind Dienst am Menschen.

Ausstellungskatalog: "Global Village. Design - Ursprung und Moderne", Hrsg. Monika Wenzl-Bachmayer. Mit Beiträgen von Fritz Trupp, Rolf Sachsseund Manfred Hainzl; ca. 72 Seiten, ca. 90 Abb. Erhältlich im Museumsshop Wagner:Werk Museum Postsparkasse.

Global Village
Design - Ursprung und Moderne
4. Oktober bis 26. November 2011