Fotografieren, um zu verändern

Wie weit können Bilder gegen Ungerechtigkeiten und soziale Missstände wirksam werden? Auf diese Frage hat der amerikanische Fotograf Lewis Hine (1874–1940) mit seinem Werk eine frühe Antwort gegeben. Der ausgebildete Lehrer und Soziologe wünschte enthusiastisch, dass sich die Amerikaner der Ungerechtigkeiten im amerikanischen Recht bewusst werden. Gleichzeitig stand er für die Überzeugung ein, dass jeder Mensch, jedes Individuum den vollen Respekt der anderen verdient. Fotografie, so seine Perspektive, war das beste Werkzeug, um dies sichtbar und deutlich zu machen.

Lewis Hines Werk steht ganz am Anfang der grossen Tradition der engagierten, sozialdokumentarischen Fotografie, der sogenannten "concerned photography". Seine Bilder von Immigranten auf Ellis Island, von Kinderarbeit in amerikanischen Fabriken und von den Bauarbeitern des Empire State Building hoch über Manhattan sind zu zentralen Ikonen des 20. Jahrhunderts geworden. Gleichzeitig erinnern sie daran, dass die dokumentierten Missstände auch nach hundert Jahren nicht an Aktualität eingebüsst haben.

Wir sehen heute selbst in Europa intensive Migrationsbewegungen, die in Zukunft weiter zunehmen werden. Kinderarbeit kennen wir hierzulande zwar nicht mehr, jedoch nur, weil wir die industriellen Produktionszweige, die mit Kinderarbeit operieren, in ferne Länder ausgelagert haben. Auch zeigen Unfälle in aussereuropäischen Fabriken, unter welch bedenklichen Umständen unsere Konsumgüter bis heute hergestellt werden. Hines fotografischer Blick und seine Schwarz-Weiss-Fotografien spannen demnach einen direkten Bogen zur Gegenwart.

Lewis Hine wuchs in einem einfachen Restaurantbetrieb in der Kleinstadt Oshkosh, Wisconsin, auf. Mit 18 Jahren verlor er seinen Vater bei einem Unfall und sorgte vorerst als Fabrikarbeiter in einer Möbelmanufaktur, als Portier, Vertreter und Buchhalter für sich und die Familie. Nach einer Lehrerausbildung und einem Studium der Soziologie an der University of Chicago zog Hine nach New York, wo er an der Ethical Culture School erstmals mit der Fotografie in Kontakt kam: Er setzte die Kamera im Unterricht ein und porträtierte im Rahmen eines Forschungsprojektes die Immigranten auf Ellis Island.

Fortan verstand Lewis Hine seine Kamera als Waffe, um gesellschaftliche Missstände aufzudecken und mit der Kraft der Bilder Veränderungen zu bewirken. Mit diesem inneren Auftrag reiste er für das National Child Labor Committee (NCLC) 75"000 km durch die Vereinigten Staaten und fotografierte Kinder bei ihrer Arbeit in der Landwirtschaft, in den Minen, Fabriken, Nähateliers und auf den Strassen. Seine Bilder sind nicht nur mitverantwortlich für ein neues Bewusstsein und erste Reformen gegen die Kinderarbeit. Ebenso begründen sie einen der frühesten und wichtigsten Beiträge zum Genre der sozialdokumentarischen Fotografie.

Das Fotomuseum Winterthur zeigt diese umfassende Retrospektive mit 170 Werken und vielen Werkdokumenten in Zusammenarbeit mit der Fundación MAPFRE (Madrid), der Fondation Henri Cartier-Bresson (Paris) und dem Nederlands Fotomuseum (Rotterdam). Alle Werke stammen aus dem George Eastman House, International Museum of Photography and Film in Rochester, USA.

Fotografieren, um zu verändern
8. Juni bis 25. August 2013