Filmfestival Cannes endet mit überraschenden Preisträgern

27. Mai 2013
Bildteil

Die diesjährige Goldene Palme geht an Abdellatif Kechiche für seinen "La vie d’Adèle" über eine "passion fou" zwischen zwei Frauen. Den Grossen Preis der Jury holen sich die Coen-Brüder mit "Inside Llewyn Davis". Aus Cannes berichtet Doris Senn.

Zwar insbesondere von der französischen Presse gehypt, und doch eher überraschend ging die Goldene Palme des 66. Filmfestivals von Cannes an "La vie d"Adèle" des tunesisch-französischen Regisseurs Abdellatif Kechiche. Der auf dem Comic "Le bleu est une couleur chaude" von Julie Maroh basierende Film erzählt von zwei jungen Frauen, deren Beziehung als Liebe auf den ersten Blick beginnt und sich zur großen "passion fou" entwickelt.

Der Film zeigt dies insbesondere physisch – mit einer minutenlang und extensiv gezeigten Liebesnacht in 101 Positionen. Kechiche trieb dabei seine beiden Hauptdarstellerinnen Léa Seydoux ("Winterdieb", "Les adieux à la reine") und insbesondere das große Nachwuchstalent Adèle Exarchopoulos, deren Gesicht Kechiche in vielen Großaufnahmen zu zelebrieren weiß, bis an ihre Grenzen. Nicht überraschend wurde daher die Goldene Palme für "La vie d’Adèle" zum ersten Mal in der Geschichte des Festivals an den Regisseur und die Darstellerinnen gemeinsam verliehen.

Der Film erzeugt durchaus einen erzählerischen Sog, doch darüber hinaus erhält die mutmaßlich über Jahre sich hinziehende Beziehung von Adèle und Emma nie Tiefe oder Profil, und die isolierten, mit sprunghaftem Schnitt inszenierten und aneinandergereihten Erzählnuklei – oft hektische Dialogszenen von pseudodokumentarischem Touch – allein vermögen die Geschichte nicht aus ihrer Schablonenhaftigkeit zu lösen. Außergewöhnlich ist zudem, dass der Film in Cannes in einer "provisorischen" knapp dreistündigen Version eingereicht werden konnte – gut möglich, dass er nun mit Kürzungen und Straffungen für seinen für Herbst angepeilten Kinostart fitgemacht wird.

"Nur" den Grossen Preis der Jury erhielten die Coen-Brüder für ihr unprätentiöses Porträt eines Folksängers in den 60ern – aber immerhin. Ihr "Inside Llewyn Davis" ist ein äußerst atmosphärisches und mit viel Charme erzähltes Zeit- und Musikporträt – und ein weiterer Beweis, dass die Coens noch längst nicht aufgehört haben, sich immer wieder neu zu erfinden.

Die weiteren Preise gingen an die SchauspielerInnen der – wie auch "Inside Llewyn Davis" – als Siegeranwärter gehandelten Filme: so an Bérénice Bejo ("The Artist"), eine der Hauptdarstellerinnen in "Le passé" von Ashgar Farhadi, dessen Beziehungs- und Familiendrama von Beginn weg als Kandidat für die Palme gehandelt wurde, obwohl der Plot und seine Konstruktion zwar bestechen, aber doch nicht an die Brillanz des Vorgängerfilms und Oscar-Gewinners "Nader and Simin - A Separation" heranreichen.

Der Preis für den besten Darsteller ging an den 76-jährigen Bruce Dern in Alexander Paynes ebenfalls valablem Anwärterfilm für einen größeren Preis in Cannes: "Nebraska". Der amerikanische Regisseur, der 2002 "About Schmidt" realisierte (mit Jack Nicholson in der Hauptrolle) erzählt darin – in schönstem Jarmusch-Stil – von einem Sohn (als genial gespielter Antiheld: Will Forte) und seinem leicht dementen Vater (Bruce Dern).

Letzterer hat ein Werbe-Millionenlos erhalten und lässt sich nun von nichts und niemandem davon abbringen in seinem Glauben, dass die versprochene Million an der angegebenen Adresse in Lincoln, Nebraska, auf ihn warte. Sein Sohn David gibt irgendwann auf und macht sich mit seinem Vater zusammen auf die Reise nach und durch Nebraska, wobei er im Ursprungsort seines Vaters so einiges Unbekanntes aus Vaters Vergangenheit aufdeckt und – als die Aussicht auf das Millionenlos durchsickert – auch viele Begehrlichkeiten seitens Familie und ehemaliger Bekannten weckt.

Payne schafft mit trockenem Humor und in Schwarzweiss ein wunderbares Roadmovie, das nicht nur die Beziehung zwischen dem alten Mann und seinem Sohn mit viel Einfühlsamkeit schildert, sondern auch die Weiten des Kornstaates Nebraska betörend auf die Leinwand bannt.

Eher etwas überraschend muten die weiteren Vergaben durch die von Steven Spielberg präsidierte Jury an, in der unter anderem auch Nicole Kidman und Daniel Auteuil oder die Regisseure Ang Lee und Cristian Mungiu Einsitz hatten: Der 34-jährige Amat Escalante erhielt für seinen Film "Heli", der insbesondere durch seine exzessiv gezeigten Folterszenen durch die mexikanische Drogenmafia von sich reden machte, den Preis für die beste Regie.

Der "kleine" Preis der Jury ging an den japanischen Regisseur Hirokazu Kore-Eda für seinen doch eher konventionellen und länglich geratenen zwischen Sozialdrama und Komödie pendelnden Film um zwei im Krankenhaus vertauschte Babys: "Like Father, Like Son". Die Auszeichnung für das beste Drehbuch schließlich erhielt Jia Zhangke für seinen Episodenfilm "A Touch of Sin" – ein Kaleidoskop an Einblicken über die Arbeitssituation in vier verschiedenen Regionen Chinas und daraus folgende blutige Gewalt- und Racheakte.

Seinen Wettbewerb beschloss Cannes mit Amüsement und altmeisterlicher Glorie: zum einen mit Jim Jarmusch und seinem mit Witz in die Gegenwart transportierten Vampirmovie "Only Lovers Left Alive" – ein für Jarmusch eher mainstreamiges, selbstironisches Kultstarvehikel mit Tom Hiddleston, Tilda Swinton, Mia Wasikowska und John Hurt. Zum andern mit dem jüngsten Werk des 79-jährigen Roman Polanski, "Venus in Fur", in dem er sein Alter Ego und Ebenbild Mathieu Amalric als Bühnendramaturg auftreten lässt, der sich leidenschaftlich in eine Schauspielerin (gespielt von Polanskis Ehefrau Emmanuelle Seigner) verliebt. Ein Zweipersonen-Bühnenstück um Liebe, Macht und Dominanz – dessen Inszenierung Polanski schon lange für sich erträumt hatte. (Doris Senn)