Filmfestival Cannes 2013: Halbzeit!

22. Mai 2013
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Der Wettbewerb hat Fahrt aufgenommen und segelt nun unter hoffnungsfrohem Wind – dank der Coen-Brüder und ihrem neuesten Werk "Inside Llewin Davis" sowie Steven Soderberghs "Behind the Candelabra". - Ein Zwischenbericht von Doris Senn

Joel und Ethan Coen schaffen es doch tatsächlich, auch nach 15 Filmen und als fortgeschrittene Fünfziger noch immer zu überrraschen. Ihr "Inside Llewin Davis" – ein unprätentiöses, dafür umso gelungeneres Folksängerporträt aus den Sechzigern im New Yorker Greenwich Village – besticht als visuell schönes, dramaturgisch anregendes und musikalisch überzeugendes Zeitporträt.

Der darin beschriebene Llewin Davis – vage inspiriert von den Memoiren von Dave Van Ronk – verfügt als Sänger und Gitarrist zwar über Charisma und Können, aber irgendwie schafft er es nicht über die Kleinbühnen hinaus. So schläft der notorisch Geldlose mal hier bei Freunden auf der Couch, mal da. Schliesslich ist auch noch die Frau eines Freundes von ihm schwanger, und dann ist da noch diese Katze …

Diese unspektakuläre Geschichte verfilmten die Coens mit hervorragenden Schauspielern – insbesondere Oscar Isaac in der Hauptrolle, der – wie die anderen auch – bravourös die Lieder selbst performt. Der Film würdigt dies, indem er die Songs (auch in musikalischer Hinsicht verdienterweise) allesamt ausspielt – was mit zum runden Filmerlebnis beiträgt.

Die Coen-Brüder als regelmäßige Cannes-Rückkehrer – mit "Inside Llewin Davis" reisen sie zum nicht weniger als elften Mal an die Croisette! – erhielten bereits mit ihrem vierten Film "Barton Fink" 1991 die Goldene Palme. Es folgten im Laufe der Jahre zahlreiche weitere Auszeichnungen: eine lange Liste von Oscars, Golden Globes und entsprechenden Nominierungen. Mit ihrem neusten Œuvre stehen sie nun wieder ganz vorne auf der Anwärterliste für die diesjährige Palme.

Mit schon mehr als 70 Produktionen zwischen Fernsehen und Leinwand ist der 53-jährige Takashi Miike – mit seiner Art von actionreichen Yakuza-Streifen, die er mit viel Liebe zum Skurrilen und viel Selbstironie inszeniert – nicht nur in Cannes ein Unikum. Sein diesjähriger Wettbewerbsbeitrag "Shield of Straw" – Miike ist zum dritten Mal in Cannes und zum zweiten Mal im Wettbewerb – ist ein toller, nach allen Regeln der Kunst inszenierter Krimi, der seinen Regisseur in Hochform zeigt: für Krimi-Aficionados ein Leckerbissen – aufgrund seines plakativen Genres aber wohl ohne Chancen auf eine Auszeichnung.

Dabei ist der Plot zwar nicht ganz neu, aber trotzdem genial: Ein greiser Tycoon, dessen Enkelin entführt und brutal ermordet wurde, setzt ein immenses Kopfgeld auf den Mörder aus und lässt dies durch einen Coup in allen Tageszeitungen bekannt machen. Dadurch entsteht die paradoxe Situation, dass die Polizei die Aufgabe hat, nicht die Menschen vor einem Verbrecher zu schützen, sondern umgekehrt: Sie muss den Mörder heil beim Staatsanwalt in Tokio abliefern und dabei einige der selbst ernannten Henker umgehen – wobei auch das Polizei-Corps nicht vor Nachahmern gefeit ist, werden doch schon Mordversuche mit Millionen von Yen belohnt.

Mit einer schrillen, an Mangas inspirierten Ästhetik, mit psychologischer Tiefenschärfe und dem nötigen Action-Brimborium zieht uns Miike unmittelbar in den Sog der Verfolgungsjagd, die sich – GPS sei Dank – filmisch online wie auf einem Videogame verfolgen lässt. Miike gelingt mit "Shield of Straw" eine Art Kultkrimi der Postpostmoderne.

Die Schauspielerin und Regisseurin Valerie Bruni Tedeschi, die (erstaunlicherweise) zum ersten Mal in Cannes ist, legt nach "Il est plus facile pour un chameau …" (2003) und "Actrices" (2007) nun ihren dritten Film vor: "Un château en Italie". Darin inszeniert sie sich selbst als Spross einer begüterten italienischen Familie, die in Frankreich lebt (ihre eigene Familie migrierte in den Siebzigern aus Angst vor Entführungen durch die Brigate Rosse von Turin nach Frankreich).

Der Clan, der im Film auf wenige Mitglieder zusammengeschrumpft ist, hat mittlerweile einen Großteil des Vermögens verloren und sieht sich gezwungen, das Tafelsilber zu veräussern – darunter auch ein "Schloss in Italien". Im Film nun tritt die 49-jährige Regisseurin nicht nur in einer Alter-Ego-Hauptrolle auf, sie besetzt auch ihren filmischen Lover mit ihrem rund 20 Jahre jüngeren Lebensgefährten und Schauspieler Louis Garrel ("Les amours imaginaires"), den sie bei den Dreharbeiten zu ihrem letzten Film kennen lernte und mit dem zusammen sie ein Baby adoptierte. Sowohl der Altersunterschied als auch der unerfüllte Wunsch nach eigenen Kindern sind ein Thema in "Un château en Italie".

Bruni-Tedeschis neuester Film plätschert mit viel amüsanten kleinen Pointen vor sich hin, zwischen familiären Verwicklungen und mehr oder weniger prekären Geldgeschichten: Wird der Aids-kranke Bruder heiraten, ja – nein? Soll man das Schloss veräussern, ja – nein? Den Breughel versteigern, ja – nein? Dem penetranten Freund des Hauses in ewigen Geldnöten helfen, ja – nein? Bruni Tedeschi prägt mit ihrem fahrigen Wesen, mit ihrem schussligen Charme – wie schon in ihren vorangehenden Werken – Plot und das improvisiert wirkende Drehbuch.

Und es liegt wohl nicht zuletzt am mehrheitlich italienischen Dialog, dass man sich unweigerlich an Nanni Moretti erinnert fühlt, als dessen weiblich-neurotisches Pendant Bruni Tedeschi mit Fug und Recht bezeichnet werden kann. Schade, dass ihr die Fäden zum Schluss der Erzählung etwas aus der Hand rutschen – wenn der Aidstod des Bruders die Handlung bleischwer nach unten zieht und die Rückkehr des Lovers ganz zum Schluss etwas angeklebt wirkt …

Mit Spannung wurde der von Steven Soderbergh als "letzter Kinofilm" aus seiner Hand angekündigte "Behind the Candelabra" erwartet. Das Filmwunderkind, das mit seinem allerersten Film, "Sex Lies and Videotape", 1989 die Goldene Palme gewann, ist der Querelen mit und der Vorschriften von Hollywood müde und will in Zukunft nur noch fürs TV produzieren.

So wurde bereits "Behind the Candelabra" von HBO produziert (weil Hollywood das Thema – aufgrund der Schwulen-Geschichte? – abgelehnt hatte) und inspiriert sich am wahren Leben des musikalischen Wunderkinds und später flamboyanten Las-Vegas-Entertainers Liberace. Einen Namen machte dieser sich nicht nur mit seiner Virtuosität als Pianist und seinem angeborenen Flair, das Publikum für sich zu gewinnen, sondern auch mit seiner Liebe zu Prunk und Pracht und seinen grell-luxuriösen Kostümierungen.

Im Zentrum steht der ältere Liberace, der sich in den von Startum und Habgier unbeleckten Scott Thorson verliebt und eine mehrjährige Beziehung mit ihm lebt. Scott wiederum sieht in Liberace gerne den Lover, den besten Freund, den fehlenden Vater, wie das auch der Star-Entertainer so suggeriert. Die Geschichte geht nicht gut aus: Liberace verstößt irgendwann seinen "Adoptivsohn", um einen Jüngeren nachzuziehen. Und obwohl er sein Leben lang die Gerüchte um seine Homosexualität – selbst vor Gericht und unter Eid – leugnete, sollte er wenig nach Rock Hudson zu den frühen prominenten Opfern von Aids gehören.

Soderbergh liefert mit "Behind the Candelabra" ein vollendetes, mainstreamfähiges Porträt über einen legendären Entertainer und das Startum in Hollywood und Las Vegas – samt Schönheitsoperationen, Verjüngungskuren und Drogenexzessen. Was den Film zu einer Spielwiese für Maskenbildner macht, die einen Superjob machen zwischen Älterwerden, den obligaten Verjüngungs- und Diätkuren sowie Schönheitsoperationen. Der Film lebt aber insbesondere von zwei exzellenten Schauspielern, Michael Douglas und Matt Damon, die den beiden Hauptfiguren Charakter und Tiefe verleihen, ohne sie zur Karikatur werden zu lassen. Preiswürdig! Doris Senn