Federleicht wie Stoff, Wurzeln und Gestein

Im Rahmen des Walserherbstes 2023 findet derzeit in der Scheune Lehen in St. Gerold im Großen Walsertal unter dem Titel "Zwischen Schwerkraft und Leichtigkeit" eine internationale Gruppenausstellung statt, an der vierzehn Kunstschaffende aus fünf Ländern mitwirken. Bei der Schau handelt es sich um eine Weiterführung des Projekts "Flügelbauen". Im Herbst 2021 fand die erste "Flügel-Ausstellung" in der Scheune Lehen statt, die zweite folgte im Mai 2023 in der Galerie Depoo in Sofia. Für den aktuellen Walserherbst landete das Projekt erneut in der Scheune Lehen.

In der nunmehrigen Gruppenschau spielen zwar Flügel auch weiterhin eine Rolle, wie beispielsweise die Flügelskulpturen (Engel mit Kleiderbügel) und Fotografien (Meine Engel) des französischen Künstlers Guilles Huguet belegen, darüber hinaus werden aber vor allem auch Themen wie das Ankommen und das Verwurzeltsein sowie das Dazwischen ins Untersuchungsfeld gerückt. Nämlich die Bereiche zwischen Fliegen und Landen, zwischen den Elementen Luft und Erde, zwischen Schwerkraft und Leichtigkeit, wie die organisierende Künstlerin Dorothea Rosenstock erläutert.

Eine der schönsten Arbeiten der Ausstellung trägt den Titel "Nest bauen" und stammt von Rosenstock, die in Luzern und Helsinki Kunst und Design studiert hatte, selber. Bei dieser Arbeit handelt sich um ein dichtes, Vlies-artiges Papiergewebe in das zusätzliche farbige Papierbänder luftig und locker integriert sind. Auch vier weitere objekthafte Werke ("Wurzelgewächse") von ihr im Eingangsbereich sowie im großen Raum im Erdgeschoß beschäftigen sich symbolisch mit Begriffen wie Identität, Heimat und Bodenständigkeit.

Von der in Lorüns lebenden Malerin und Zeichnerin Judith Batlogg sind sechs Tempera-auf-Leinwand-Arbeiten zu sehen, in denen sie einerseits eine Zeile eines Gedichtes von Joseph Kopf oder Blues-Notationen in ornamentale Farbordnungen transformiert. Andererseits bieten Bilder wie "ganz tief graben" oder "ganz hoch steigen" in monochromer Farbigkeit gehaltene Einblicke in das ins Erdreich eingebundene Wurzelwerk oder das hoch in die Luft ragende Kronwerk von Bäumen.

Klassisch gibt sich der aus Argentinien stammende Künstler Guido Franco Ferrari mit seinen in Öl gemalten Rätikon- oder "Alpenmeer"-Darstellungen, während sich die in Thüringerberg lebende Anna Stemmer anhand der Werkserie "Der Drache in der Lutz" illustrativ mit Druck und Tusche auf Papier mit einer großwalsertalerischen Sage auseinandersetzt.

Unterirdische Allianzen

Die Technik der Radierung zählt zu den Hauptausdruckvarianten von Irene Dworak-Dorowin, die sowohl Gründerin als auch Gastgeberin des Kulturzentrums Scheune Lehen ist. Sie zeigt unter anderem mit "Underground Alliance" anhand von drei Beispielen, wie Bäume miteinander kommunizieren und deren Wurzeln andere mit Energien versorgen. Sie bilden sprichwörtlich unterirdische Allianzen.

Der bulgarische Künstler Teddy Liho hat mit "Wurzeln hoch oben im Himmel" eine ortsspezifische Installation eingerichtet, für die er materialmässig auf Cyanotypie Monodrucke, Kinderschuhe, Spiegelteile, Baumwollstoff und einen Sisalzopf von Dorothea Rosenstock und gestrickte Brennesselfasern von Tsvetomir Petkov zurückgreift. Mit seinem Beitrag verweist er auch auf den Roman "Root Deep in the Sky" des bulgarischen Autors Binio Ivanov.

Speziell auch der Beitrag von Sara Lunden aus Finnland, die auf einem würfelförmigen Sockel sechzehn Brotscheiben präsentiert, auf die sie mit Hilfe von Leinenfäden "von der Erde aufgelesene" Espen- und Blütenblätter gebunden hat.

Heidi Aulikki Puumalainen stammt ebenfalls aus Finnland und hat sich dort sowohl als Keramikerin als auch Pädagogin einen Namen gemacht. Sie hat unter dem Titel "Gedanken kommen wie Schmetterlinge" zwei "Gedankensammlungen" in die Scheune Lehen mitgebracht, die aus jeweils mehreren filigranen Objekten aus Porzellan oder glasiertem und eingefärbtem Steinzeug bestehen und formal an Vaginadarstellungen erinnern.

Neben den bereits erwähnten Engeldarstellungen von Gilles Huguet im Vorraum des oberen Stocks, sind dann im sogenannten Giebelraum mehrere Installationen zu sehen. So etwa neun seriell angeordnete Werke aus Baumwolle und Leinen von Monika Ludescher, die formal an Wimpel erinnern. Die 1950 in Wien geborene und heute in Batschuns lebende Künstlerin studierte ursprünglich Ur- und Frühgeschichte in Innsbruck. Die Auseinandersetzung mit früheren Kulturen spielt in der Werkstrategie der Textilkünstlerin daher eine zentrale Rolle. Die den als "Tanz-Rhythmus-Holz" bezeichneten Arbeiten aufgenähten Zeichen, Muster und Motive beziehen sich auf historische Vorlagen aus dem Amazonien des 19 Jahrhunderts.

Ein siebenteiliges Mobile aus "Papiersteinen" in bewährter Qualität steuert ihr Ehepartner Johannes Ludescher der Ausstellung bei. Ludescher bildet Steine, die er in der Natur findet, maßstabsgetreu und stark vergrössert nach. Mit seinen Konstruktionen aus Zweigen und Papier, die die Schwere des archaischen Ursprungsmaterial aushebeln, verbindet er zudem die Malerei mit der Dreidimensionalität.

In unmittelbarer Nachbarschaft zu Ludeschers Mobile ist eine weitere "Stein"-Installation am Boden ausgelegt. Die bulgarische Künstlerin Tzvetelina Maximova hat hier mit Hilfe von Hanffasern, Draht und Papier eine Reihe von Stein-Objekten aus Papiermache erarbeitet, die von der Textur her an Alabaster erinnern. Auch wenn Ludescher und Maximova sehr unterschiedliche Zugänge zu den Steinen in Leichtbauweise haben, scheint die unmittelbare Platzierung nebeneinander nicht gerade glücklich gewählt.

Melanie Berlinger, die sich schwerpunktmässig der botanischen und der Kerbtier-Illustration sowie dem Photopolymerdruck und der Radierung verschrieben hat, ist mit sehr ansprechenden älteren Radierungen etwa eines Hirschkäfers oder einer Hornisse mit dabei sowie mit der ganz neuen Radierung (Aquatinta und Strichätzung auf Tiefdruckkarton) "Anthophila" (Blumenwespe), die sie teilweise coloriert auf unterschiedlichste Papiere wie etwa Strohseide, Serviette, Tiefdruckbütte oder Transparantpapier druckte.

Der letzte Beitrag bennent sich "Zwischenraum" und stammt von der Kärntner Künstlerin Anna Rubin. Rubin hat goldene Dreiecke aus Rettungsfolie mit Hilfe von Garn zu einer dichten Raumverspannung kombiniert.

Zwischen Schwerkraft und Leichtigkeit
Heidi Aulikki Puumalainen (FIN), Judith Batlogg (V),
Melanie Berlinger (V), Irene Dorowin-Dworak (V),
Guido Franco Ferrari (Argentinien), Gilles Huguet (F),
Teddy Liho (BG), Hannes Ludescher (V),
Monika Ludescher (V), Sara Lundén (FIN),
Tzvetelina Maximova (BG), Dorothea Rosenstock (CH/V),
Anna Rubin (Ktn), Anna Stemmer (V)

Walserherbst 2023, Scheune Lehen, St. Gerold
Bis 10.9.
Do-So 15-19
www.walserherbst.at