For ever – Sontag

In Ihrem Essay "Gegen Interpretation" schreibt Susan Sontag: Interpretation sei "die Rache des Intellekts an der Kunst. Mehr noch. Sie ist die Rache des Intellekts an der Welt. Interpretieren heißt, die Welt arm und leer machen – um eine Schattenwelt der 'Bedeutungen' zu errichten. Es heißt, die Welt in diese Welt verwandeln." Und jetzt gibt es "Die Biografie". Der amerikanische Journalist Benjamin Moser wurde dafür mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Verständlich insofern, weil ihm eine höchst ausführliche Aufarbeitung Susan Sontags Lebens im Zusammenhang von Zeit, Kultur und Gesellschaft gelungen ist.

Chronologisch, akribisch, ausufernd geht er es an. Quer lesen funktioniert nicht, aber man will sich ja wirklich von Anfang – den Lebensbedingungen ihrer Mutter – bis zum Ende – Befindlichkeiten der Geladenen bei Sontags Begräbnis – auf die 900 Seiten einlassen. Abhängen und sich immer wieder zu vertiefen ist jedoch möglich in den zwei 16 Seiten starken Inlays, die ins Fotoalbum blicken lassen, mit Texten, die emotional berühren.

"Jede Biografie, die zu meinen Lebzeiten geschrieben würde, empfinde ich als überflüssiges und unseriöses Unterfangen. Wenn die Autoren es nicht für nötig hielten, mich über ihre Absichten zu informieren oder meine Einwilligung und Mitarbeit zu suchen, bevor sie einen Vertrag für ihr Buch unterzeichneten, verspricht das etwas noch Unappetitlicheres zu werden", schreibt Sontag. Benjamin Moser ist der erste, der Zugang zu privaten Aufzeichnungen und Dokumenten hatte und der einzige bisher, der von Sontags Sohn sowie ihrem Agenten und dem Verleger zum Schreiben einer Biografie über "Amerikas letzten großen Literaturstar" (so Moser) autorisiert wurde. 1976 in Texas geboren, ist der in den Niederlanden lebende Autor ziemlich jung – für so ein Epochengemälde. Ja, er hat mit zahllosen Menschen gesprochen, die Susan Sontag kannten, hat sich intensiv mit ihrem Werk, ihren Artikeln, Filmen, Essays, Romanen und mit der Kulturgeschichte auseinandergesetzt. Er macht dies mit gebührendem Respekt, kann aber nicht widerstehen, sich Bewertungen, Urteile, Interpretationen anzumaßen. Durch die Fülle des recherchierten Materials, das ansonsten zweifellos unzugänglich gewesen wäre, kann man sich damit behelfen, diese Ansätze des Autors zu überlesen. Schwerer tut man sich dagegen mit der mangelhaften Übersetzung aus dem Englischen und den Versäumnissen des Korrektorats.

Am Beispiel einer Kurzgeschichte von Susan Sontag sei verdeutlicht, wie Benjamin Moser doch immer wieder in die Falle tappt. In "Wallfahrt" oder "Pilgrimage" erzählt sie mitreißend von ihrer Gedankenwelt als Teenagerin und dem tatsächlich gemachten Besuch bei Thomas Mann im kalifornischen Exil. Kurzgeschichten sind eine Kostbarkeit in Sontags Werk, es gibt nur 16 davon! Es ist freilich höchst interessant, die wahren Begleitumstände (Dez 1949 statt Dez 1947, Studenten statt Schüler, sie waren zu dritt, nicht zu zweit) nachzulesen, auch Mosers Nacherzählung der Handlung liest sich richtig und gut. Doch dann passiert ihm folgendes: "... aber abgesehen davon ist die Geschichte so gründlich frisiert – weit über das Maß der üblichen Auslassungen hinaus, die normal sind, wenn Erinnerungen zu Memoiren werden –, dass ‚Wallfahrt‘ nur noch im weitesten Sinne als Erinnerungsbericht zu bezeichnen ist. Das ist umso bemerkenswerter, als offensichtlich mit aller Energie versucht wird, den Anschein der Detailgenauigkeit zu erwecken: ..." Moser führt anschließend den Text missmutig interpretierend in (unvollständigen!) Zitaten auf diese Unzulänglichkeit hin vor und vergisst offensichtlich, dass es sich um ein Stück Literatur handelt.

Trotzdem will man diese Biografie unbedingt im Bücherregal haben und kann der Jury-Begründung zum Pulitzer-Preis 2020 vollinhaltlich zustimmen: "Ein richtungsweisendes Werk, erzählt mit Pathos und Anmut, das Genie und Menschlichkeit der Schriftstellerin mit all ihren Abhängigkeiten, sexuellen Ambiguitäten und volatilen Leidenschaften einfängt."

Benjamin Moser: Sontag. Die Biografie
Deutsch von Hainer Kober. Penguin, 924 S., ISBN 978-3-328-60159-3, EUR 41,20