Down and out in Paris, London and Catalonia

Vor 80 Jahren publizierte Eric Blair als George Orwell (1903-1950) seine erste größere Arbeit "Down and Out in Paris and London", eine Art Erlebnisbericht über Armut, Landstreicher und ihre Lebensbedingungen in zwei Großstädten. Orwell hatte für kurze Zeit selbst arm und herumstreichend, sich mehr schlecht als recht von kleinen Gelegenheitsarbeiten über Wasser haltend, als Tramp gelebt.

Seine bitteren Erfahrungen aus dem Spanischen Bürgerkrieg, an dem er aktiv auf Seite der bedrängten und schließlich verlierenden Republikaner teilnahm, fanden Ausdruck in seinem Buch "Hommage to Catalonia", das vor 75 Jahren, 1938, von Orwells Verleger nicht angenommen wurde, weil der Autor nicht nur die Faschisten angriff und anprangerte, sondern auch die Kommunisten kritisierte, vor allem die unheilvolle, verräterische Rolle Moskaus. Ein anderer, unerschrockener Verleger sprang bei und publizierte das Buch, das sich äußert schlecht absetzen ließ. (Die deutsche Übersetzung erschien erst 1964!)

Orwell saß zwischen den Stühlen. Die Rechten schmähten ihn, viele Linke griffen ihn an und organisierten Kampagnen gegen den Renegaten, den Verräter. Orwell bewies Charakter, ließ sich nicht kaufen, von keiner Seite, und machte weiter, bis ihn die Krankheit 1950 hinwegraffte, kurz, nachdem er 1949 den Roman, der ihn neben seiner "Animal Farm" weltberühmt machen sollte, "1984", publizieren konnte.

Orwell wird gehasst und verehrt, ähnlich wie Karl Kraus in Österreich; die Gemeinde der Hasser ist in beiden Fällen größer und wüster. Und in beiden Fällen schwälen Gruppen von Jüngern, also unkritischen Anhängern...

Aber eines scheint es heute nicht mehr zu geben: Autoren, die ernsthaft, seriös, ohne geiles Geschäftsmarketing, ohne zuviel Eitelkeit, sich den brennenden Themen widmen und Partei ergreifen. Orwell war parteilich. Er war engagiert. Er nannte die Dinge beim Namen, hielt fest am Satz "2 x 2 = 4", und fügte sich nicht der Parteiräson, der sich sogar so humane Philosophen wie der hochgebildete, oft säuselnd-winselnde Ernst Bloch und Genossen ehrbar-ehrfurchtend das Wort schmetternd unterwarfen und Stalin priesen, nur weil er gegen Hitler gerichtet war. Der Zweck heiligt die Mittel. Nach dieser Devise argumentierten und agierten die meisten Linken, ein gepriesener Egon Erwin Kisch ebenso wie ein Lion Feuchtwanger und seinesgleichen, von den Hardlinern der Kommunisten ganz zu schweigen. Heute scheint diese inakzeptable Haltung eine Renaissance zu erleben.

Von den Verleumdungskampagnen wirkt viel nach und taucht Orwell in ein schiefes Licht. Die Gutmenschen waren immer schon rigide, ähnlich wie ihre Nachbarn, die religiösen Tugendwächter.

Heute würde ein Orwell Schicksale vieler Migranten, Flüchtlinge, Asylanten oder gewisser Minderheiten, wie etwa der Roma und Sinti, behandeln und deren Partei ergreifen. Bei uns unternehmen das nur ganz wenige. Er würde nicht Mitleid haschend das Problem privatisieren, sondern die gesellschaftlichen Strukturen, die eigentümliche Programmierung herauskehren.

Heute würde ein Orwell gesellschaftlichen Widerstand, wie damals in Spanien, zur Sprache bringen, anders, als er gegenwärtig in der freien Presse des Westens für allgemein zur Sprache (und ins Bild) gebracht wird. Er verweigerte sich der billigen Dichotomie von "Wir – die Guten", "Die Andern – die Schurken und Feinde". Er griff z. B. die ungarische Regierung an, die im Rückgriff auf faschistische Ordnungsbegriffe just diese fatale Zweiteilung vehement und extrem durchsetzt. Er kritisierte sein Heimatland Großbritannien, für das er so überzeugt einstand, eben weil er es schätzte, und weil es sich mit der jetzigen Politik so tief von dem unterscheidet, was ihm zivilisiert und rechtens erschienen war.

Und er würde den dienstbaren Jargon der Schwätzer kritisieren, die heute nicht nur den Journalismus bestimmen, sondern weite Teile der Wissenschaften, besonders im human- und sozialwissenschaftlichen Bereich.

Zwei alte Bücher. Zwei alte Themen. Aber nichts davon veraltet.