"Die unvollendete Symphonie meines Lebens" von Ernst Viebig

8. Februar 2013 admin
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Der Klappentext: Ernst Viebig, einziger Sohn der Eheleute Fritz Theodor Cohn, Verlagsbuchhändler, und der Schriftstellerin Clara Viebig, wird am 10.  Oktober 1897 geboren. 1958, ein Jahr nach seiner Rückkehr stirbt Ernst Viebig in Eggenfelden in Bayern. 1957, noch im brasilianischen Exil, schreibt der Musiker seine Autobiographie, die vor allem die Situation in der Familie und das schwierige Verhältnis zu Mutter und Vater, die ihn immer wieder unterstützen, schildert.

Daneben stellen die Erinnerungen auch ein Zeitdokument der zwanziger und frühen dreißiger Jahre des vorherigen Jahrhunderts dar, führten doch die Viebigs ein offenes Haus für Künstler, und Ernst Viebig hat durch seinen Beruf als Kapellmeister, Komponist und Redakteur einer Musikzeitschrift auch Kontakt zu allen, die in der Musikszene der Weimarer Republik Rang und Namen hatten. Seine so erfolgversprechend begonnene Musiklaufbahn endet abrupt, als 1933 die Nationalsozialisten die Macht ergreifen: Als Halbjude muss er 1934 Deutschland verlassen. Hier enden auch seine Aufzeichnungen.

Meine Gedanken zu dem Buch: Es gibt kaum eine Lektüre, die mich so sehr interessiert wie jene, welche die Themen Literatur und Musik vereint. Wenn es sich, wie in diesem Fall, um einen Komponisten handelt, der zudem der Sohn einer Schriftstellerin ist, deren Werke ich besonders schätze, dann bin ich glücklich. Dass Christel Aretz und Peter Kämmereit diese Autobiographie herausgaben ist ein Segen! Im Herbst vergangenen Jahres hatte ich die Ehre und große Freude, die Tochter Ernst Viebigs kennen zu lernen. Susanne Bial (88) lebt im brasilianischen Rio de Janeiro und war nach Deutschland gereist, um an der Vorstellung der Autobiographie ihres Vaters dabei zu sein. "Schreib doch dein Leben auf", mit diesen Worten ermutigte Susanne Bials Mutter ihren Mann Ernst, diese Autobiographie zu schreiben. Und wie tat sie gut daran!

Ernst Viebig schrieb ein wunderbares Stück Zeitgeschichte, darüber hinaus gewährt er nicht nur einen tiefen Einblick in sein Leben und seine Seele, sondern auch in die Leben einiger interessanter und berühmter Zeitgenossen. Schließlich war Viebig in den Zwanziger Jahren ein begehrter Musikjournalist und das Haus seiner Eltern, dem Verleger Fritz Theodor Cohn und der Schriftstellerin Clara Viebig, war ein Treffpunkt für allerhand außergewöhnliche Persönlichkeiten. Bei Bekannten seiner Eltern lernte er gar Albert Einstein kennen, welcher bei dieser Gelegenheit Geige spielte und von Ernst Viebig am Klavier begleitet wurde.

Ernst Viebigs Aufzeichnungen umfassen den Zeitraum von seiner Geburt bis hin zu seiner Übersiedlung nach Brasilien, als er 37 Jahre war. Wussten Sie, dass eigentlich geplant war, den jungen Ernst eine Ausbildung als Traiteur machen zu lassen, und dass seine Interessen als Heranwachsender ebenso der Literatur, der Medizin und der Kochkunst, sowie der Musik galten? Seine Pubertät empfand er gleichwohl sehr ähnlich, wie alle: "(...) der geistige Einfluss meiner Eltern und vieler kluger Erwachsener haben meinen Geist damals nicht reicher werden lassen. Denn die Zeit meiner Pubertät war wie ein glühender Lavastrom, der alles mit sich fortriss und begrub (...)".

Viebig formuliert sehr offen seine Gefühle und Probleme während der Zeit des Heranwachsens, eine Veröffentlichung zu seinen Lebzeiten hätte sicherlich einen Skandal ausgelöst! "(...) Trotzdem entsinne ich mich wohl, dass ich niemals ernstlich, auch später nicht, irgendwelche Neigung zu gleichgeschlechtlicher Sexualhandlung verspürte, auch nicht in der Zeit meines Soldatseins oder in anderen frauenarmen Epochen (...)". Während des Erzählens und Erinnerns macht Ernst Viebig manchmal Daten daran an ganz banalen Ereignissen fest. So zum Beispiel erinnert er sich, dass es Schnitzel mit Spargel zu essen gab, also musste es Mitte des Jahres 1915 gewesen sein.

Während des Lesens gewinnt man den Eindruck, als nähme Viebig den Leser mit auf eine Reise durch sein Leben. So war ich auch zugegen, als seine Frau, eine Solotänzerin, eine Stellung in einem Nachtbetrieb im Ausland annahm. Er schrieb: "Ich war außer mir, meine Ehe war praktisch damit beendet. Aber was sollte ich tun? Ich tröstete mich mit anderen (...)". Ernst Viebig sollte Recht behalten, diese Ehe war beendet - er heiratete er erneut. Am 2. Februar 1924 gaben sich Ernst Viebig und Irmgard Guerke, die im Hause Viebig als Schreibkraft angestellt war, das Jawort. Am 3. Juli wurde ihre Tochter Susanne geboren. Den Namen verdankt sie übrigens dem werten W.A. Mozart, denn die Eheleute hatten sich, was den Geburtstermin betrifft, wohl verrechnet und begrüßten sich zum Ende der Schwangerschaft täglich mit den Worten "Und Susanna kommt nicht?" (aus der "Hochzeit des Figaro").

Ich gehöre zu jenen Lesenden, die Randbemerkungen eintragen, Passagen unterstreichen und Notizstreifen an die Buchseiten heften. Alles Interessante, Außergewöhnliche, Lustige, alles, was ich unbedingt wieder lesen möchte, was mich überrascht, schockiert, freut, ich ganz besonders gelungen finde oder Ihnen erzählen und Sie darauf hinweisen möchte, markiere ich. Was soll ich sagen, dieses 176 Seiten starke (!) Meisterwerk ist voller Notizen und Zettelchen. Lesen Sie es am besten gleich selbst. Kein einziger Satz, keine Zeile und kein Wort darin sind überflüssig! Dazu gehört auch unbedingt das Vorwort von Volker Neuhaus sowie die Anmerkungen von Viebigs Ehefrau Irmgard und die Aufzeichnungen ihrer gemeinsamen Tochter Susanne Bial ("Mein Vater, der Komponist Ernst Viebig").

Ernst Viebig - Die unvollendete Symphonie meines Lebens
Einer berühmten Mutter Sohn erinnert sich
ISBN 978-3-89801-061-0
Rhein-Mosel-Verlag
Broschur, 176 Seiten,
10,90 Euro