Die Chronologie der Bilder

Das Städel Museum besitzt Meisterwerke europäischer Kunst vom späten Mittelalter bis zur Gegenwart. Da die Galerieräume aufgrund der Sanierungsmaßnahmen im Altbau, die anlässlich der Städel-Erweiterung stattfinden, sowie der Erschließung des Neubaus über den Altbau derzeit geschlossen sind, bietet sich die einmalige Gelegenheit, die vertrauten Kunstschätze in einem völlig neuen Kontext zu zeigen. Die temporäre Sammlungspräsentation "Die Chronologie der Bilder. Städel-Werke vom 14. bis 21. Jahrhundert", die nun im Ausstellungshaus vorgestellt wird, gibt die üblicherweise bestehende Trennung nach Kunstregionen auf und ersetzt diese durch eine streng chronologische und länderübergreifende Hängung.

Auf diese Weise entsteht ein dichter kunsthistorischer Zeitstrahl, der einen neuen, ungewohnten und oftmals überraschenden Blick auf bekannte sowie noch zu entdeckende Meisterwerke des Städel ermöglicht und Teile der Städel- Sammlung auch während der Sanierungsarbeiten erlebbar macht. Begleitet von Schlaglichtern auf politische, gesellschaftliche, kulturelle oder wissenschaftliche Ereignisse bietet die Präsentation nicht nur unkonventionelle Nachbarschaften, sondern vermag auch auf einzigartige Weise die Entwicklungsgeschichte der abendländischen Malerei zu illustrieren. Insgesamt zeigt die auf zwölf Räume verteilte Ausstellung über 300 Gemälde aus dem Bestand des Städel, wobei sich der Bogen der Meisterwerke von Jan van Eyck und Andrea Mantegna über Rembrandt, Nicolas Poussin und Giovanni Battista Tiepolo bis hin zu Max Beckmann, Pablo Picasso, Alberto Giacometti und Gerhard Richter spannt. Ein umfassendes Begleitprogramm reflektiert die Werke im monatlichen Wechsel aus dem Blickwinkel unterschiedlicher Themenschwerpunkte wie technische Innovationen, Naturwissenschaft, Theater- oder Literaturgeschichte. Hierzu zählt beispielsweise die neue Veranstaltungsreihe "Der Gastkommentar", bei der Gäste aus Politik, Wirtschaft und Naturwissenschaften ihre individuelle Sicht auf die vertrauten Werke des Städel Museums eröffnen.

Der Bau großer Museumsgebäude und die Entstehung der wissenschaftlichen Kunstgeschichte im 19. Jahrhundert verfestigten die Trennung der Gemäldesammlungen nach geographischen Schulen. Die Kunst vom Mittelalter bis zum Barock wurde mit den Alpen als Scheidelinie zwischen Süd und Nord getrennt; hinzu trat die Ordnung nach nationalen (italienischen, französischen, deutschen oder englischen) Schulen, bald auch die nach Kunstströmungen wie dem Symbolismus, Impressionismus oder Expressionismus. „Die Chronologie der Bilder“ gibt diese übliche Trennung auf und präsentiert Gemälde aus der Städel-Sammlung von 1300 bis in die Gegenwart in der chronologischen Reihenfolge ihrer Entstehung. Dieser dichte historische Parcours ermöglicht den Besuchern eine Zeitreise durch sieben Jahrhunderte europäischer Kunstgeschichte, bei der die Bilder von einem Zeitstrahl aus prägenden historischen Ereignissen begleitet werden. In einem fortlaufenden Band über den Gemälden angeordnet, ermöglichen die subjektiv ausgewählten Geschehnisse aus Politik, Kultur oder Wissenschaft eine historische Einordnung der Werke und bieten Raum für zahlreiche Assoziationen.

Der erste Teil der Ausstellung veranschaulicht den Wandel der Kunst zwischen dem Spätmittelalter und der Französischen Revolution. Diese Zeitspanne zwischen 1300 und 1800 lenkt den Blick auf tiefgreifende Veränderungen in Europa, deren Konsequenzen auch in der Kunst erkennbar werden. Auf goldgrundige Tafelbilder des späten Mittelalters folgen niederländische und italienische Werke des 15. Jahrhunderts, darunter Jan van Eycks Lucca-Madonna (um 1437) oder Giovanni Bellinis Madonna mit Kind, Johannes dem Täufer und der Heiligen Elisabeth (1490–1500). Mit oder ohne religiösen Bezug zeugen sie vom Aufbruch der Malerei als selbständige und selbstbewusste Kunstgattung. Deutsche Maler der Renaissance und Reformationszeit wie Albrecht Dürer oder Hans Holbein d. J. sind mit hochkarätigen Werken vertreten. Vom Ende des 16. bis zum 18. Jahrhundert reizten die Künstler von Manierismus, Barock und Rokoko die Möglichkeiten ihrer Kunst aus: Den einen ging es um Theatralik, Licht und Farbe, den anderen um das Erreichen eines klassischen Ideals der Ausgewogenheit. In der Ausstellung vertretene Höhepunkte dieser Zeitspanne sind Rembrandts Die Blendung Simsons (1636), Antoine Watteaus Einschiffung nach Kythera (um 1709–1710) oder Tiepolos Heilige der Familie Crotta (um 1750).

Das besondere Hängungskonzept veranschaulicht nicht nur eine stringente Entwicklung der europäischen Kunstgeschichte, sondern eröffnet zusätzlich einen vergleichenden Blick auf ungewöhnliche Nachbarschaften innerhalb der chronologischen Hängung. So sind van Eycks Lucca-Madonna und der in unmittelbarer Nähe hängende Evangelist Markus (1448–1451) von Andrea Mantegna herausragende Beispiele für die künstlerischen Innovationen, welche die wirtschaftlichen Zentren nördlich und südlich der Alpen in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts hervorbrachten. Während in Italien die Regeln der Zentralperspektive neu entdeckt wurden und Leon Battista Alberti die Errungenschaften seiner Zeitgenossen in einer der ersten theoretischen Abhandlung der Kunstgeschichte niederschrieb, experimentierten flämische Künstler um van Eyck erstmalig mit Techniken der Ölmalerei. Die Gestaltung der innerhalb der beiden Gemälde abgebildeten Architektur zeigt, dass Mantegna die mathematisch korrekte zentralperspektivische Raumkonstruktion beherrschte – van Eyck hat den Thronraum der Maria dagegen aufgrund seiner Erfahrung und den Erfordernissen einer symbolischen Bildordnung entsprechend gestaltet.

Der zweite Teil der Ausstellung widmet sich der Epoche der Moderne. Das "bürgerliche Zeitalter" war geprägt von Säkularisierung, Industrialisierung und technischem Fortschritt. Revolutionen und Kriege stürzten die politischen Machtgefüge Europas. Die verschiedenen Kunstströmungen setzten sich mit der neuen Lebenswirklichkeit auseinander. Der Realismus wollte sie wahrheitsgetreu samt ihrer negativen Seiten abbilden, andere Strömungen thematisierten eher den Rückzug aus einer immer komplexer werdenden Außenwelt – ins traute Heim, in die Natur oder in die Tiefe der menschlichen Psyche. Innerhalb der Ausstellung setzt die Präsentation des 19. Jahrhunderts und der klassischen Moderne mit Joseph Antons Kochs 1803 entstandener Landschaft mit dem Dankopfer Noahs ein und schließt mit Georg Poppes An der Gartenmauer (1943). Berühmte Meisterwerke der Sammlung wie Max Liebermanns Freistunde im Amsterdamer Waisenhaus (1881), Ernst Ludwig Kirchners Varieté (1909/26) oder Max Beckmanns Stillleben mit Saxophonen (1926) werden hier gezeigt. Dennoch unterscheidet sich "Die Chronologie der Bilder" grundsätzlich von einer Meisterwerkeschau: Sie thematisiert vor allem die Bandbreite künstlerischen Schaffens verschiedener Epochen und damit die "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen".

Parallel zur traditionellen Salonmalerei, die sich bis ins 20. Jahrhundert fortsetzte, entstanden Avantgardebewegungen wie der Impressionismus und der Expressionismus. Diese Avantgarde bestimmt als vermeintlicher "Standard" unsere heutigen Sehgewohnheiten und lässt eine große Zahl von Künstlern, die zu Lebzeiten eine wichtige Rolle im Kunstgeschehen spielten, in den Hintergrund treten. Die chronologische Hängung zeigt Salonstücke wie Junges Mädchen nach dem Maskenball (1906) von Jacques-Émile Blanche in nächster Nachbarschaft zu Ernst Ludwig Kirchners Akt mit Hut (1910/20). Hier lassen sich trotz gegensätzlicher künstlerischer Auffassungen überraschende Übereinstimmungen in der Gestaltung des weiblichen Körpers ausmachen. Welten liegen dagegen zwischen zwei nebeneinander hängenden Darstellungen von Adam und Eva: Während der Symbolist Franz von Stuck die Versuchung des Bösen betonte, unterstrich Otto Mueller den Einklang von Mensch und Natur.

Im letzten Teil der Sammlungspräsentation – Kunst nach 1945 – veranschaulicht die sich aus der Datierung der einzelnen Werke ergebende Bilderfolge wesentliche Aspekte, die sowohl die Sammlung als auch die Malerei nach 1945 auszeichnen: den Gegensatz von Figuration und Abstraktion und die mediale Erweiterung des klassischen Leinwandbildes. Auf Francis Bacons und Alberto Giacomettis figurative Arbeiten, die den menschlichen Körper thematisieren und mittels der Malerei um eine psychologische Dimension erweitern, folgen Werke von Josef Albers, Piero Manzoni und Lucio Fontana, die den Bildträger als solchen, seine räumliche und materiale Qualität, betonen. Gerhard Hoehmes Zimbal (1966), ein dreidimensionaler Bildkasten, in dem Wäscheleinen gespannt und bemalt sind, wird von zwei Assemblagen Peter Roehrs gerahmt, die der gestisch-informellen "Malerei" Hoehmes das Prinzip einer anonymen seriellen Ordnung entgegensetzen. Wolfgang Tillmans’ ohne Negativ entstandene "abstrakte" Fotografie findet sich neben Armin Boehms Ölmalerei wieder, die auf einer fotografischen Vorlage beruht, die im Malprozess ihre Gegenständlichkeit weitgehend verliert und zur abstrakten Oberfläche wird.

Die Chronologie der Bilder
Städel-Werke vom 14. bis 21. Jahrhundert
28. Oktober 2010 bis 24. Juli 2011