Diagonale 2019: Privates und Öffentliches

23. März 2019
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Während Katrin Schlösser in ihrem Dokumentarfilm "Szenen meiner Ehe" Einblicke in ihr Privatleben bietet, schauen Jakob Brossmann und David Paede in "GEHÖRT, GESEHEN – Ein Radiofilm" hinter die Kulissen des Radiosenders Ö1. Weltumspannend gewaltige Erdbewegungen durch den Menschen dokumentiert Nikolaus Geyrhalter in "Erde", Öffentliches und Privates verbindet dagegen Nils Olger, der in "Eine eiserne Kassette" der Kriegsvergangenheit seines Großvaters nachspürt.

Wohl gezielt an Ingmar Bergmans "Szenen einer Ehe" soll der Titel von Katrin Schlössers Dokumentarfilm erinnern. Der dramatischen Ehegeschichte des schwedischen Meisterregisseurs stehen aber bewusst undramatische Szenen bei Schlösser gegenüber. Lose reiht sie alltägliche Momente aneinander und konzentriert sich ganz auf das Private und zeigt fast nur die Ehepartner.

Schlösser lässt vor allem ihren Mann Lukas direkt in die Kamera über ihre Beziehung reflektieren und auch ihre Führungsrolle kritisieren. Die Probleme, die aus dem Umstand, dass sie in Berlin ihre Heimat sieht, er aber in einem südburgenländischen Landhaus werden ebenso angerissen, wie das Altern seiner Mutter, um die sie sich schließlich kümmern müssen.

Bewusst fragmentarisch bleibt "Szenen meiner Ehe" dabei, bauscht nichts groß auf, entwickelt keine Szene wirklich weiter. Keine echte Kinogeschichte stellt sich somit ein, sondern der Zuschauer wird vielmehr auf sich selbst zurückgeworfen, wird durch die Ehrlichkeit und Offenheit der gebotenen Szenen angeregt über seine eigenen Beziehungen nachzudenken.

Im Gegensatz zu diesem sehr persönlichen und privaten Einblick, der mehr inszenierte Wirklichkeit als echter Dokumentarfilm ist, nähern sich Jakob Brossmann und David Paede in "GEHÖRT, GESEHEN – Ein Radiofilm" mit den Mitteln des Direct Cinema dem Radiosender Ö1. Kommentarlos bietet das Regie-Duo ganz im Stil von Frederic Wiseman vielfältige Einblicke von Programmsitzungen über Diskussionen über die Rolle von Ö1 in einer veränderten Medienlandschaft, zur Erneuerung des Senders, des Logos und der Signatur bis zu den sinkenden Zuhörerzahlen und dem Reinigungsdienst.

So objektiv der Blick auf den erfolgreichsten öffentlich-rechtlichen Kultur- und Informationssender Europas ist, dessen Programm täglich einer 300-seitigen Zeitung entspricht, so klar und entschieden ist doch das Plädoyer für die Erhaltung von Ö1 und die Absage an Überlegungen zur Abschaffung der Rundfunkgebühren.

Das gelingt Brossmann/Paede einerseits durch die anregende Vermittlung des vielfältigen Programms dieses Senders, andererseits auch durch die Leidenschaft und das Engagement der Redakteure, das hier vermittelt wird, und schließlich ganz dezidiert durch Robert Menasses Festrede zum 50. Geburtstag von Ö1. Gezielt ans Ende gesetzt ist auch das Gespräch eines Redakteurs mit einem Experten für Moos, dessen Gefährdung unübersehbar auch für die Gefährdung von Ö1 steht.

Im Gegensatz zur Fokussierung Brossmanns und Paedes auf den im Wiener Funkhaus beheimateten Radiosender holt Nikolaus Geyrhalter in "Erde" zu einer Reise um die (westliche) Welt aus. In sieben Kapiteln dokumentiert er die Eingriffe des Menschen in die Erde mittels gewaltigen Erdbewegungen. Mit 156 Millionen Tonnen Erdverschiebungen pro Tag ist der Mensch nämlich noch vor Wasser, Erde und Luft, die zusammen täglich 50 Millionen Tonnen Erde bewegen, der wichtigste geologische Faktor.

Von einer 2000 Hektar großen Baustelle im kalifornischen San Fernando Valley, in dem Berge versetzt werden, um Platz für eine neue Stadt mit Siedlungen, Shopping Malls, Schulen und vielleicht auch einem Kino zu schaffen, bis zum Brenner-Basistunnel spannt Geyrhalter den Bogen. Während in Ungarn im Tagebau Braunkohle gewonnen wird, setzt man im spanischen Rio Tinto Dynamit ein, um an Kupfer zu kommen. Mit Steinsägen und gewaltigen Baggern wird dagegen der Marmor aus einem Steinbruch in Italien abtransportiert.

Dass diese menschlichen Eingriffe nicht folgenlos bleiben, wird spätestens in den letzten beiden Kapiteln klar, wenn die Atomlagerung in einem stillgelegten deutschen Salzbergwerk und die Ölgewinnung aus Ölsand im kanadischen McKay dokumentiert werden. Denn das Endlager für Atommüll gilt inzwischen längst nicht mehr als so sicher wie ursprünglich geglaubt, und in McKay ist das gewaltige Areal abgesperrt und der Zutritt der indigenen Bevölkerung, die einst hier lebte verboten, die Flüsse von Chemikalien und Giften, die zur Ölgewinnung eingesetzt werden, verseucht.

Jedes Kapitel beginnt mit einer großen Luftaufnahme, die einen Eindruck von der Großbaustelle vermittelt. Darauf folgen die für Geyrhalter charakteristischen statischen Totalen, in denen dröhnende Bagger dominieren und einen Eindruck von den Erdverschiebungen vermitteln, während Arbeiter und Ingenieure in Interviews, die sie direkt in die Kamera sprechen, von ihrer Faszination für die Arbeit sprechen, aber auch darauf hinweisen, dass das immer ein Kampf mit der Erde sei.

Eindringlich vermittelt Geyrhalter in seinem bildmächtigen Dokumentarfilm, wie hier die Erde im wahrsten Sinne des Wortes verwundet wird, wie sie ausgebeutet wird und ihr Gewalt angetan wird. Selten konnte man so intensiv erleben, welch aggressiver Akt solche Erdbewegungen sind und wenn man mit Baggern nichts mehr ausrichtet, setzt man Dynamit ein. Zweimal fliegen so förmlich auch dem Zuschauer Gesteinsbrocken direkt um die Ohren.

Im Gegensatz zu diesem globalen Blick spürt Nils Olger in "Eine eiserne Kassette" der Geschichte seines Großvaters Olaf Jürgenssen in den letzten Kriegsjahren nach. Nicht viel gab dieser 2007 dem Enkel über diese Zeit in einem Interview, das ebenfalls in den Film Eingang fand, preis. Nach dem Tod des Opas übergab aber dessen Witwe Olger eine eiserne Kassette, in der er auch einen Film mit 377 Schwarzweißfotos, die der Großvater zwischen März 1944 und April 1945 gemacht hatte.

Mit diesen Fotos als Reiseführer begab sich Olger zunächst nach Ungarn, dann nach Italien, wo der Großvater als Arzt der Aufklärungsabteilung der 16. SS-Panzergrenadier-Division "Reichsführer SS" diente. Den Schwarzweißfotos des Großvaters stehen die farbigen Aufnahmen der heutigen Städte und Landschaften gegenüber, vor allem aber den Bildern von lachenden Soldaten die Erzählungen von Nachkommen der Opfer von NS-Massakern im italienischen Vinca und Marzabotto.

Wie die Fotos des Großvaters die Naziverbrechen konsequent aussparen - und damit auch bewusst machen, wie Bilddokumente die Wahrheit verzerren können -, hat auch Jürgenssen selbst diese Ereignisse verdrängt und behauptet nur einmal eine verletzte Frau gesehen zu haben. Nicht zu glauben ist das freilich angesichts der Tatsache, dass er in unmittelbarer Nähe der Kriegsverbrechen war.

So erinnert "Eine eiserne Kassette" nicht nur an Kriegsverbrechen der Nazis, die nur wenig thematisiert werden und vielfach vergessen sind, sondern legt im Blick auf Jürgenssen auch einen Umgang mit der Kriegsvergangenheit frei, wie er im Nachkriegsösterreich weit verbreitet war und auch von offiziellen Stellen gepflegt wurde. (Walter Gasperi)