Design ohne Designer

Gutes Design ist in der Mehrzahl anonym, ungeachtet seiner ästhetischen Qualität. Mit Designer-Namen verbundene Objekte sind die Ausnahmen von der Regel. Oft tragen gerade die Fehler, die Ansprüche und Schwierigkeiten Namen: Bestecke von Sottsass fallen vom Teller, Fernseher von Braun haben nie ordentlich Sender empfangen, bei den Zitronenpressen von Starck landen Saft und Kerne im selben Glas. Die Tafelwaren von Lilien-Porzellan, der Kaffeehausstuhl Thonet No. 14 sind dagegen so unverwüstlich und funktionell, wie es die Filmkameras von Eumig waren – doch deren Entwerfer sind im Nebel der Designgeschichte verschwunden.

1842 erlässt das British Empire einen Copyright Act, der ausdrücklich textile Muster in gleicher Form schützt wie literarische Texte (Gronert). Damit wird eine Praxis internationalisiert, die sich zuvor in den meisten europäischen Ländern etabliert hatte: das Hinterlegen von Mustern in großen Büchern oder auf Kartons bei Gewerbeämtern oder Wirtschaftsverwaltungen. Wer ein spezifisches Textilmuster, ein Porzellandekor oder eine besondere Oberfläche von Messerschäften produzierte, dafür gar besondere Techniken des Webens, Brennens oder der Oberflächenveredelung anwandte, konnte dies als ökonomische Grundlage eines Betriebs hinterlegen. Zwischen den 1790er und 1850er Jahren sind auf diese Weise Tausende von Mustern gesammelt worden, denen zwar Hersteller und Techniken, aber nie einzelne Personen als Entwerfer zugeordnet werden können. Die Musterkarten, Musterkartons und Musterbücher repräsentieren dabei das oberste Segment des frühindustriellen Standards der Produktion. In der Designtheorie hat sich aus den Musterbüchern wie aus den Modellen der Architektur heraus eine eigene Ideologie entwickelt, das Prototyping.

Als Stuhl der Stühle ist er bezeichnet worden, die Produktionsziffern wurden immer nur geschätzt, aber dies in unglaublicher Höhe – als gesichert mögen für die ersten siebzig Jahre seiner Existenz rund 20 Millionen Exemplare gelten: Der Stuhl No. 14, 1859 von der Firma Michael Thonet & Söhne in Koritschan/Mähren vorgestellt. Er wurde aus wenigen Einzelteilen – sechs Holzstücke, zehn Schrauben, zwei Muttern, dazu ein Bezugsstoff oder aus Geflecht bestehende Stuhl zerlegt geliefert, was Transport- und Instandhaltungskosten enorm reduzierte. Zum modernen Design macht ihn nicht allein die reduzierte, schnörkellose Form, sondern vor allem die Herstellungs- und Distributionsweise: Die Endmontage wird dem Käufer überlassen; die Reduktion des Ornaments ist weder eine stilistische noch eine moralische Entscheidung, sondern einzig dem Produktionsprozess geschuldet. Modern ist an diesem Stuhl also insbesondere jener umfassende Prozess aus Entwurf, Fertigung, Gebrauch und mehrfacher Fortnutzung, der den historischen Blick auf die Gegenwart lenkt.

Von Zeit zu Zeit tritt ein Erfinder, ein Hersteller, ein Händler mit dem Anspruch auf derart vollkommene Lösung eines Konsumentenproblems an, dass es keiner weiteren Gestaltung von Produkt und Kommunikation mehr bedarf. 1946 brachte Earl Silas Tupper in den USA – nach rund zehnjähriger Vorbereitung – ein Set von Vorratschüsseln für Lebensmittel aus einem Kunststoff auf den Markt, für den er eine lebenslange Garantie auf jedes damit hergestellte und unter seinem Namen vertriebenen Produkt gab, die "Tupperware wonderlier bowls". Tupper verließ sich auf den rillenförmigen Deckelrand seiner Verschlusskappen, durch die in seinen weichen Kunststoffschalen ein leichter Unterdruck herrschte, was neben den bakterienabweisenden Eigenschaften des Kunststoffs für längere Haltbarkeit der gelagerten Lebensmittel sorgte; die in den ersten zwei Jahrzehnten sehr zurückhaltende Formgebung seiner Objekte war für ihren langfristigen Erfolg mitverantwortlich.

Gerade in Ländern mit einer tiefen Tradition industrieller Produktion formiert sich in den 1980er Jahren eine Design-Bewegung, die keine neuen Formen mehr finden will, sondern die gegebenen Strategien des Enwerfens mehr oder minder radikal befragt: eine neue, veränderte Nutzung eines gegebenen Gegenstands, überkommenen Materials oder einer alten Idee in bislang ungesehener Weise. Das kann quasi nebenbei passieren, etwa beim Befüllen von Trinkgläsern mit Bleistiften oder den unendlichen Varianten des Gebrauchs von Büroklammern. Derlei Grundübungen in designerischem Handeln sind auf Alltagsebene angelangt: sei es die Nutzung eines alten Kohleherdes als Grill im Garten, die Bepflanzung einer Bassena mit Geranien, die Verwendung alter Leitern als Pflanzgitter, die Nutzung einer Standnähmaschine als Beistelltisch und dergleichen mehr – immer wird sie quasi verschämt im Hinterhof des eigenen Hauses und Gartens praktiziert, ein wenig spöttisch oder selbstironisch kommentiert. Die dahinter stehenden Versuche zur Bewahrung einer maßstäblich wiedererkennbaren Denkmalpflege sind noch zu wenig in das Bewusstsein designerischen Handelns geraten.


Main Street. Design ohne Designer
6. Oktober bis 14. November 2009