Der Raum als Zeichenfläche

Laut dem deutschen Kunsthistoriker Wolfgang Kemp ist das Zeichnen "vielleicht die freieste, unbestimmteste Tätigkeit, die der Mensch mit der Hand ausübt, und zugleich diejenige, die das höchste Mass an Kontrolle verlangt". Allgemein gibt es kaum einen Kunstschaffenden, dessen Oeuvre ausschließlich auf der Zeichnung beruht. Andererseits gibt es auch so gut wie keine/n KünstlerIn, deren oder dessen Werk gänzlich ohne die Zeichnung auskommt. Da macht auch die in Feldkirch geborene und seit langem in Wien lebende und arbeitende Medienkünstlerin und Musikerin Sabine Marte keine Ausnahme.

Marte, die in früheren Jahren vor allem mit aufwendigen Video-Installationen und performanten Aufführungen in der Öffentlichkeit präsent war, setzt sich seit einigen Jahren intensiv mit den Möglichkeiten der Zeichnung auseinander und präsentiert diese auch regelmässig in Kunsträumen und Galerien. Beispielsweise zeigte sie Ende 2016 in der Bregenzer Galerie Lisi Hämmerle eine erlesene Auswahl von Zeichnungen, in denen sie sich, so wie bei ihren Videos, mit Geste und Körper im Raum auseinandersetzt und reflexive Befragungen dazu anstellt. Kennzeichen solcher Arbeiten ist es, dass es häufig nur Körperfragmente, Gliedmassen, odere angedeutete Gesten und Handlungen sind, die eingefroren scheinen, die sie mit Tusche zu Papier bringt. Dabei verwendet sie keine Vorlagen wie etwa Fotos, Magazinausschnitte oder Internet-Downloads, sondern sie zeichnet die Motive unmittelbar aus dem Kopf direkt auf den Bildträger. Und wie bei ihren Videos wird nichts korrigiert und nachbearbeitet. Es sind stets sehr reduzierte, einfache Zeichnungen, die von einem markanten Spiel mit der Linie geprägt sind.

Dass sie es auch versteht, mit der Linie Vorstösse ins Monumentale zu unternehmen, bewies sie letztes Jahr mit ihrer Gestaltung der Aussenfassade der Dornbirner Fachhochschule. Mit Unterstützung des Laternser Malerbetriebs von Martin Komar übertrug sie eine aus Linien gebildete Doppelfigur auf die Wand. Das an der Aula entstandene Motiv ist unabgeschlossen und öffnet sich zur Umgebung hin. Wichtig in der Entstehung ihrer Zeichnungen ist Marte der Bezug zum Raum. An der FH Vorarlberg ist ein Vexierbild entstanden, das durch die schmalen Säulen des Aulagebäudes mehrmals fragmentiert wird. Die Doppelfigur ist ein politischer Körper, der die eindeutige Lesbarkeit von Geschlechtlichkeit suspendiert. Geöffnet und nicht eindeutig wird sie einzig über unsere Wahrnehmung vervollständigt.

Einbezug von Raum und Architektur

An diese Arbeit im öffentlichen Raum anknüpfend, präsentiert Sabine Marte im Rahmen ihrer derzeit im Feldkircher Theater am Saumarkt laufenden Ausstellung keine gerahmten Zeichnungen, sondern setzt die Darstellungen, in denen man Figurationen und Körperfragmente erkennen kann, direkt mit Acrylfarben auf die Wand. Die Wände des Saumarkts werden somit sprichwörtlich zum "Zeichenblock" respektive zur Projektionsfläche der Gestik des Zeichnens.

Im Vorfeld der Ausstellung hat die Künstlerin, die in Wien lebt, die schwierigen Räume, die Zwischendecken, Durchsichten, Verwinkelungen und Balkenstreben aufweisen, zwei Mal besichtigt. In ihrem Atelier in Wien hat sie in der Folge lineare Figurationen unterschiedlichster Dimensionen entwickelt. Manche sind so gross, dass sie fast skulpturalen Charakter annehmen. Diese hat sie mit Hilfe von Schablonen auf die Wände des Saumarkts übertragen. Und wie schon bei der Fachhochschule Dornbirn konnte sie auch im Saumarkt Feldkirch zur Unterstützung auf die handwerklichen Fertigkeiten von Martin Komar zurückgreifen. Manche der "konzipierten Zeichnungen" setzen sich über Kanten, Ecken und Abgrenzungen hinweg und wirken gleichsam raumverbindend.

Sabine Marte, die seit 2018 auch einen Lehrauftrag für "Digitale Medien" am Institut für bildende Kunst an der Akademie der Bildenden Künste in Wien hat, zu diesen Wandzeichnungen: "Die intensive Auseinandersetzung mit dem filmischen Raum entspricht in der Zeichnung einem von Räumlichkeit durchdrungenen Körper. Dieser durchdrungene, unabgeschlossene, instabile Körper ist es, der mich berührt und den ich in den Wandzeichnungen erneut verorte. Dabei suche ich nach Schnittmengen aus gezeichneter, offen gehaltener Figuration und dem Raum/ bzw. der Architektur, auf die projiziert und letztlich gemalt wird. Ein Interdependenzgeflecht aus Körpern, Projektion und Raum".

Die Wandzeichnungen sollen nun zumindest bis Juli nächsten Jahres Bestand haben und zu besichtigen sein. Ab dann wird der Saumarkt renoviert. Laut der Geschäftsführerin des Saumarktes, Sabine Benzer, werden aber Überlegungen angestellt, Teile dieser „gezeichneten Installation“ langfristig zu erhalten. Auch ist angedacht, eine Druckmappe mit Lithografien zu den Zeichnungen zu produzieren.

Sabine Marte: Zwei Körper, Rücken an Rücken, ergeben auch einen Spalt
Saumarkt Feldkirch
Bis 22. Juli 2022
Fr u. Sa 17-19 Uhr, u. n. Voranmeldung