Der Beginn einer vielleicht wundervollen Freundschaft

4. September 2013 Rosemarie Schmitt
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Bevor ich diese CD hörte, behauptete ich vollen Ernstes, weder zeitgenössische Kompositionen noch den Klang der Sakralorgel zu mögen. Wie gesagt, bevor ich diese CD hörte. Es mag sein, daß ich mich bislang nicht intensiv genug mit zeitgenössischer Orgelmusik beschäftigte, mir diese Musik noch nicht erobert habe und ihr und mir keine Chance gab. Diese Chance bot mir nun der Schweizer Organist Martin Heini, und ich ergriff sie.

"Tongues of fire" (Feuerzungen) ist der Titel der CD, die mich also nun für die Klänge der Orgel begeistern sollte. Was ich erwartete, waren sakrale, schleppende, religiös mahnende, klagende Klänge, mit einem Hauch Weihrauch in den Achtel-Pausen. Was ich hörte, war rhythmisch, bombastisch, frech, ja gar provozierend, und versetzte mich gedanklich viel eher in ein Kino, als in eine Kirche! Spontan fiel mir die Musik zum Phantom der Oper ein. Was zum Teufel ist das? Ich kontrollierte gar, ob nicht etwa irrtümlich eine andere CD eingepackt worden war. Solche Töne in einer Kirche? In Deutschland, der Schweiz? Ja, ist das denn die Posibility!

Mit dem "Concerto for solo organ, strings and percussion" begann also meine aufregende Reise in die Welt dieser Musik. Carl Rütti, der Komponist dieses Werkes, ist wie auch der Solist Martin Heini ein Schweizer. Da sage noch einer, den Schweizern mangele es an feurigem Temperament! Beide sind übrigens meisterhafte Organisten. Nach der Uraufführung von Rüttis erstem Orgelkonzert trat Martin Heini an den Komponisten mit der Bitte heran, ein Konzert für Orgel, Streicher und Perkussionsinstrumente zu schreiben. Rütti lehnte dankend ab.

Doch Schweizer können hartnäckig sein. Heini hakte nach. Der Komponist räumte ein, sein soeben vollendetes Werk entsprechend zu arrangieren. Heini lehnte dankend ab. Er bestand auf eine gänzlich neue Komposition. Es folgte ein langes Gespräch (ja, auch darin sind die Schweizer Meister) zwischen Rütti, Heini und dem Held, dem Dirigenten Rainer Held. Das Ergebnis dieses Gespräches ist das auf "Tongues of fire" (Guild GMCD 7386) enthaltene Konzert Carl Rüttis. Es ist übrigens Martin Heini und Rainer Held gewidmet. Und ich widme mich nun also, Dank sei diesen drei Herren, einem Konzert für Orgel.

Christopher Walton beschreibt Rüttis Konzert im Booklet der CD folgendermaßen: "Der erste Satz ist ein Moto Perpetuo, dessen perkussiver Drive zuweilen einen marschartigen Charakter vermittelt. (...) und so ist der zweite Satz auch eine Chaconne, wenn auch eine, in der die von der Orgel in den ersten fünfundzwanzig Takten umrissenen harmonischen Entwicklungen verschiedene Transpositionen unterliegen und manchmal abgekürzt sind, während sie die ganze Zeit immer weiter verziert werden. Eine kurze, toccata-artige Episode erinnert an zwitschernde Vögel, wird aber unterbrochen von einer Wiederaufnahme des ursprünglichen Materials, das im weiteren Verlauf intensiviert wird, bis das Vogelzwitschern in Gestalt von Orgelclustern und raschen Figurationen wiederkehrt. Der Tumult verklingt rasch, und der Satz schließt wieder mit dem Hauptthema im Grundton. Der dritte Satz ist ein kurzes Intermezzo, das auf den Vorschlag Heinis hin wiederum Vogelzwitschern enthält (...)"

Aus musikwissenschaftlicher Sicht stimme ich Walton zu, und ich vernahm das Zwitschern der Vögel, wenn auch in anderen, als den benannten Passagen. Was mich an dieser Aufnahme fasziniert, ist eben dies, was Walton als Drive, ich eingangs als Temperament bezeichne. Das exakte Zusammenspiel, dieses Sichverstehen von Martin Heini, dem Kammerorchester der Staatsphilharmonie Novosibirsk und dem Perkussionisten Mario Schubinger ist unbeschreiblich, das Tempo mit dem Heini an der Orgel "arbeitet" atemberaubend. Beethoven sagte seinerzeit, es sei gar nicht so schwer, man müsse nur zum richtigen Zeitpunkt, die richtige Note spielen. Der Meister beliebte wohl zu scherzen. Es mag sein, daß dies für einen einzelnen Musiker in seinem Kämmerlein zutreffen mag. Einzig, was nicht schwer ist, ist sich für diese Komposition Rüttis und deren Interpretation von Martin Heini zu begeistern.

Ich gestehe, daß ich noch nicht in der Lage war, mir die sowohl titelgebende Komposition "Tongues of fire", als auch Poulencs Orgelkonzert wirklich vertraut zu machen. Diese Zungen sind mir noch etwas zu feurig, aber ich stehe ja erst am Anfang meiner Freundschaft mit der Orgel. Meine Kammerorchester-Freundschaft hingegen ist stark gefestigt, wächst und dauert nun bereits viele Jahre an. Wundervoll harmonisch und melodisch empfinde ich Anton Arensky Variationen eines Themas von Tschaikowsky. Nicht nur, weil ich Streichorchester, und Kammermusik im Besonderen sehr mag, sondern weil es mir dieses junge Orchester aus Novosibirsk angetan hat.

Mein herzlicher Dank gilt Carl Rütti, Martin Heini (besonders weil er persistent auf jene daraufhin zustande gekommene neue Komposition Rüttis bestand) und allen an diesem Album beteiligten Musikern! Ich bin nicht im Begriff mir diese Musik zu erobern, sondern sie mich.

Herzlich,
Ihre Rosemarie Schmitt