Der Alles-Könner

Rund 35 Werke eines des bedeutendsten Jugenstilkünstlers in Europa sind seit Donnerstag, 6. Dezember 2012 in einer Sonderausstellung im Germanischen Nationalmuseum zu sehen. Anlass ist der Geburtstag des Künstlers, der sich am 3. April 2013 zum 150sten Mal jährt. Möbel, Tapeten, Lampen, Teppiche, Geschirr und Besteck, aber auch Bücher, Bodenfliesen, Schmuck, Stoffe und Kleider, Interieurs und sogar gesamte Gebäude: Henry van de Velde (1863-1957) gilt als einer der vielseitigsten Künstler des Jugendstils.

Ganz Kind seiner Zeit beschäftigte sich der "Alles-Könner" mit der formschönen Gestaltung des kompletten Wohn- und Lebensraums. Jedes Möbel, jeder Gegenstand des täglichen Lebens sollte die gestalterische Aufwertung durch eine elegant geschwungene Linie erfahren.

Malerei und Zeichnung standen am Anfang seines Schaffens, doch folgten schon bald erste typografische Arbeiten sowie Werke der Architektur und Innenausstattung. Zeitgleich widmete sich van de Velde während seines mehr als fünfzigjährigen Schaffens der Vermittlung seines "neuen" Stils. So veröffentlichte er in den frühen 1890er Jahren erste Abhandlungen, zahlreiche Essays zur und über die zeitgenössische Kunst sollten folgen. Auch als Lehrender war sein Einfluss groß: ab 1892 in Vorlesungen an der Kunst- Hochschule Antwerpen, in öffentlichen Vorträgen, als Dozent am Kunstgewerblichen Seminar und an der Kunstgewerbeschule in Weimar und schließlich als Professor für Architektur in Gent und Brüssel.

Sein wohl bekanntestes Möbel ist der sogenannte "Sezessions-Schreibtisch" aus dem Jahr 1899. Auffällig ist die geschwungene Form, die dem Benutzer einen bequemen Zugriff auf alle auf der Tischplatte ausgebreiteten Utensilien ermöglicht. Damit trug der Künstler den Bedürfnissen seiner in der Regel privaten Kunden Rechnung, die ein solches Möbel weniger zum Repräsentieren als zum Arbeiten benötigten. Der Schreibtisch ist komplett durchgestaltet, auch alle "fremden" Teile wie Schrauben, Scharniere, Schlösser oder Griffe erscheinen aus einem Guss. Auf der berühmten Münchner Sezessions-Ausstellung des Jahres 1899 rief das Möbel große Begeisterung hervor und wurde von mehreren Interessenten noch vor Ort bestellt. Heute gibt es nur noch drei Exemplare in öffentlichen Sammlungen, neben dem Germanischen Nationalmuseum im Hessischen Landesmuseum in Darmstadt und im Musée d’Orsay in Paris.

Ende der 1890er Jahre erhält van de Velde mehrere Großaufträge u.a. von Eberhard von Bodenhausen (1897), Julius Meyer-Graefe (1898) und Ludwig Loeffler (1899). Harry Graf Kessler lässt sich seine Wohnungen in Berlin (1898) und in Weimar (1902) einrichten, Herbert Esche in Chemnitz erwirbt erst Möbel (1898) und gibt kurz darauf den Bau und die Ausstattung einer ganzen Villa in Auftrag (1902/03) und für Karl Ernst Osthaus entwirft er die Innenräume des Folkwang-Museums in Hagen (1902/03) und dessen priva-tes Wohnhaus Hohenhof (1908).

Dass Henry van de Velde sich an so viele, äußerst unterschiedliche Themen-gebiete heranwagte, ist nicht zuletzt auf seinen missionarischen Eifer zurückzuführen, mit dem er viele seiner Auftraggeber überzeugte. Mit großer Unbefangenheit ging er als Autodidakt ans Werk und kam auf diese Weise zu neuen Betrachtungsweisen und vielfach zu völlig neuartigen und ungewohnten Lösungen. Bei all seinen Werken legte er immer größten Wert auf eine hohe handwerkliche Qualität.

Als interessantes Detail sei hier kurz noch erwähnt, dass Henry van de Velde zu den wenigen Künstlern zählt, denen das Deutsche Patentamt eine Marke zur individuellen Kennzeichnung der von ihm gestalteten Werke gewährte. Laut Patentrolle galt der Schutz von Mai 1898 bis März 1909 und ist im Zusammenhang mit der Gründung der deutschen "van de Velde GmbH" mit Sitz in Berlin beantragt worden.

Der Alles-Könner
6. Dezember 2012 bis 1. April 2013