Das Tier mit den fünf Zungen

20. Mai 2013 Kurt Bracharz
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Weil die essbaren Teile des Seeigels zungenförmig sind, werden sie auf Speisekarten meistens als "Seeigelzungen" angekündigt. Natürlich haben diese fünfstrahlig radialsymmetrischen Angehörigen des Stammes der Stachelhäuter zwar eine Mundöffnung mit einem bemerkenswert konstruierten Kauapparat, aber darin nicht wirklich eine oder sogar mehrere Zungen. Die fünf rosa- oder orangefarbigen, bei manchen Arten auch gelblich-braunen Stränge, die man sieht, wenn man den unteren Teil des Panzers aufschneidet, sind die Fortpflanzungsorgane der Tiere.

Einige der 860 Seeigelarten werden von Gourmets geschätzt, im mediterranen Raum verzehrt man die "Zungen" des Steinseeigels (Paracentrotus lividus) und des Schwarzen Seeigels (Arbacia lixula), an den Stränden des Nordatlantiks jene des Essbaren Seeigels (Echinus esculentus), in Kalifornien die des großen Strongylocentrotus franciscanus.

Der im Nordatlantik heimische Grüne Seeigel, auch eine Strongylocentrotus-Art, käme vom Geschmack her durchaus für den Verzehr in Frage, wird aber sowohl in Nordeuropa als auch in Nordamerika, wo er beispielsweise in Maine sehr häufig vorkommt, ignoriert bis abgelehnt. Auch in Südostasien kommt der dort verbreitete Diademseeigel (Diadema Setosum) eher selten auf den Tisch, was in seinem Fall wohl damit zusammenhängt, dass seine starken, scharfen Stacheln die sammelnden Taucher sehr unangenehm verletzen können. In Japan gehören die "uni" genannten Seeigel-Eierstöcke zu den typischen Sushi-Zutaten und werden meistens als gunkan-maki serviert.

Man öffnet Seeigel mittels einer Schere oder mit dem eigens dafür entwickelten Schneidewerkzeug Coupe-oursin, wobei man oben – d. h. beim Tier eigentlich unten, rund um die Mundöffnung – einen "Deckel" abschneidet, unter dem die gesuchten „Zungen“ sofort sichtbar werden. Sie werden mittlerweile auch ausgelöst als Konserven angeboten. Sie schmecken als konservierte Ware immer noch sehr intensiv nach Meer, wenngleich ihr Geschmack mit dem von frischem Seeigel nicht vergleichbar ist. Exakter äußert sich Ole G. Mouritsen in "Sushi für Wiss- und Bissbegierige", Heidelberg 2011: "Der relativ hohe Anteil an Fett, Aminosäuren und Inosinmonophosphat trägt zum kräftigen Geschmack des Seeigels bei, hinzu kommt das Aroma von Bromophenolen."

Während man frischen Seeigel nur mit einem Tropfen Zitronensaft und etwas Weißbrot verzehrt, verwendet man die Dosenware als Saucenzutat, mischt sie unter ein Rührei (im Verhältnis 1 Seeigel : 1 Ei) oder fügt sie Spaghetti con aglio, olio e peperoncino hinzu, wodurch diese zu Spaghetti al riccio di mare werden.

In der Literatur und im Internet herrscht eine gewisse Verwirrung, was diese "Zungen" nun tatsächlich sind, Sexualdrüsen von Zwittern, "Keimstöcke" oder doch Rogen, also Eier? Tatsächlich handelt es sich trotz gleichen Aussehens und damit schlechter Unterscheidbarkeit jeweils entweder um Hoden oder um Eierstöcke, denn Seeigel sind keine Zwitter, sondern getrenntgeschlechtig, es gibt also Männchen und Weibchen. Küchensprachlich ist freilich biologisch nicht ganz korrekt von "Rogen" die Rede. Noch einmal Mouritsen, a. a. O.: "Die Geschlechtsorgane weiblicher wie männlicher Seeigel sind essbar, die süßeren Eier des Weibchens gelten sogar als Delikatesse."

Nico Böer, der in "Fische der Algarve" (Luz Tavira 2003) Seeigel für Zwitter und die Zungen für Rogen hält, schreibt: "Seeigelkaviar ist von solch delikater Intensität, dass eine geringe Menge genügt, um eine Mayonnaise damit zu verfeinern. Sein beträchtlicher Phosphorgehalt soll sich bei Kindern auf die Intelligenz auswirken, glauben die Andalusier und führen zum Beweis ihre damit gefütterten Genies von Dali bis Garcia Lorca an. In nennenswerter Menge vorhanden ist der Rogen übrigens nur bei Vollmond. Wer das nicht glaubt, öffne einen am Tag danach: nichts als gähnende Leere in der Schale. Der Seeigel ist nämlich nicht bloß bi, sondern treibt’s auch nur einmal im Monat – danach sind die Eier weg."