Crossing Europe 2013: Verloren in einer kalten Welt

26. April 2013
Bildteil

Junge Frauen stehen im Mittelpunkt der ersten Wettbewerbsfilme des 10. Crossing Europe Filmfestivals in Linz. Wortkarg, aber bildstark und intensiv erzählt Scott Graham in seinem Spielfilmdebüt "Shell" von Isolation und der Sehnsucht nach Nähe, das Potential ihrer Geschichte verschenkt dagegen die Schwedin Gabriela Pichler beim Sozialdrama "Eat Sleep Die". Ein Meisterwerk gab es außerhalb des Wettbewerbs mit Sergej Loznitsas leisem Kriegsfilm "In the Fog" zu sehen.

Wenn ein 17jähriger Teenager Shell heißt und ein Film ausschließlich in und um eine Tankstelle spielt, muss die Bemerkung "wie die Tankstellen" zum Namen der Protagonistin fast zwangsläufig einmal fallen, doch die Angesprochene erklärt ihn lieber mit den Muscheln im Meer. Als diese Shell vier Jahre alt war, verließ die Mutter die Familie, allein wuchs das Mädchen mit dem Vater in einer Tankstelle in den schottischen Highlands auf. Nur selten kommen Kunden in diese raue Gegend, in der die Landschaft weit, die Wiesen karg sind und ständig ein eisiger Wind pfeift.

In großartigen Cinemascopebildern, deren Farben weitgehend auf blasse Grau- und Blautöne reduziert sind und dem Verzicht auf Filmmusik, evoziert Scott Graham eindringlich ein Klima der Isolation und emotionalen Kälte. Verloren sind die Menschen hier und suchen doch Nähe. Der von seiner Familie getrennt lebende Hugh und der junge Adam kommen hier nicht nur vorbei um aufzutanken, sondern suchen auch um die Nähe des Teenagers zu suchen.

Im Zentrum steht aber die Beziehung zwischen dem an Epilepsie leidenden Vater und seiner Tochter. Sie sucht seine Nähe, kriecht sogar in sein Bett, er versucht die nötige Distanz zu wahren, sehnt sich aber auch sichtlich nach einem Ersatz für die abwesende Frau.

Von herber Poesie ist dieses spröde Debüt, entwickelt Dichte durch die Konzentration auf einen Schauplatz und die konsequente Inszenierung und lebt von der Einbettung in die grandiose Landschaft sowie den ausdrucksstarken Hauptdarstellern Chloe Pirrie und Michael Smiley.

Während bei diesem Kammerspiel in Cinemascope die äußere Handlung auf ein Minimum reduziert wird, scheitert "Eat Sleep Die" der Schwedin Gabriela Pichler gerade an einem Überschuss an Handlung. Pichler erzählt vom Kampf der der jungen, aus Montenegro stammenden, aber schon lange in Schweden lebenden Rasa um einen Arbeitsplatz. Als Salatverpackerin ist sie unschlagbar, dennoch wird sie gekündigt, kommt in ein Trainingsprogramm des Arbeitsamtes, doch einen neuen Job scheint es für sie, die sich zudem noch um ihren aufgrund einer Krankheit arbeitsunfähigen Vater kümmern muss, nicht zu geben.

Im Stil der Dardennes folgt die Kamera zunächst Rasa zur und bei der Arbeit. Drive und Kraft entwickelt Pichler in den ersten Szenen, vermittelt eindringlich den Druck bei der Arbeit, später die Angst bei den anstehenden Entlassungen die nächste zu sein. Doch leider bleibt der Film in der quasidokumentarischen realistischen Schilderung stecken. Kein Moment wird verdichtet, kein Aspekt tiefer ausgelotet, sondern Szene reiht sich beliebig an Szene und die Handlung plätschert schier endlos dahin. So verliert man zunehmend das Interesse am Schicksal Rasas, die von Nermina Lukac zwar lebensecht und engagiert, aber nicht mit der physischen Präsenz, durch die sie den Film tragen könnte, gespielt wird.

Ein echtes Meisterwerk gab es dafür in der Sektion "European Panorama Fiction" mit Sergei Loznitsas "In the Fog" zu entdecken. Wie Elem Klimovs "Komm und sieh" spielt dieser Kriegsfilm in dem von den Nazis besetzten Weissrussland, verzichtet aber auf alle Schlachtenszenen und jedes Spektakel, schlägt leise Töne an und erzählt in langen Plansequenzen. Klassisch ist das erzählt, wirkt aber nie verstaubt, sondern gewinnt in der präzisen, von großem Ernst und Konzentration bestimmten Inszenierung, in den bestechend kadrierten Bildern sowie in der Arbeit mit Naturgeräuschen, die die Filmmusik ersetzen, große Intensität.

Im Mittelpunkt stehen drei Weißrussen. Ein überzeugter Partisan, der von einem unscheinbaren Helfer begleitet wird, soll einen vermeintlichen Verräter hinrichten, wird aber angeschossen, ehe er seinen Auftrag ausführen kann. Das Opfer, das durch die Ächtung als Verräter aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurde und deshalb von Selbstmordgedanken gequält wird, lässt den verwundeten Partisanen nicht im Stich, sondern versucht mit ihm und dem Gehilfen sich zum Stützpunkt der Partisanen durchzuschlagen.

Der Titel bezieht sich auf das lückenhafte Wissen der einzelnen Figuren über die Situation der anderen, das zu Misstrauen und falscher Einschätzung der Situation führt. Während die Protagonisten auf diesem Wissensstand bleiben, erhält der Zuschauer in drei Rückblenden Einblick in deren Vorgeschichte, lernt aktiven Widerstand, Verweigerung der Kollaboration und feiges Mitläufertum zum eigenen Vorteil und ohne Rücksicht auf das Schicksal anderer als drei mögliche Verhaltensweisen in diesen Zeiten des Krieges und der Barbarei kennen. Nur einer bewahrt hier die Menschlichkeit, doch zerbricht er an der Reaktion der Gesellschaft. Lange bleibt hier nicht nur das grandiose fatalistische Schlussbild haften, in dem alles im Nebel verschwimmt, bis doch noch ein Schuss knallt.