Christian Boltanski – Bewegt

Seit Jahrzehnten hat er wie kein anderer Künstler im internationalen Kontext den Zusammenhang von Leben und Tod bearbeitet – das Verschwinden des Einzelnen und das verzweifelte Bemühen der Menschen gegen das Vergessen und Vergessen-werden. In den letzten Jahren tritt bei Boltanski mehr und mehr der Tod in das Zentrum seiner Arbeit und er thematisiert dabei zunehmend seine eigene Person und die Restzeit seines eigenen Lebens.

Seine speziell für das Kunstmuseum Wolfsburg entwickelte Großinstallation und die ergänzenden Arbeiten spitzen dieses in unserer Gesellschaft nach wie vor tabuisierte Thema zu und verleihen ihm eine stille Eindringlichkeit und Würde. Im Zentrum der Ausstellung Bewegt steht eine großdimensionale Installation mit dem Titel Geist(er), die die mechanische Bewegung mit einbezieht. Sie schließt an seine monumentalen Installationen Personnes im Grand Palais 2010 in Paris und Chance im französischen Pavillon an der Biennale von Venedig 2011 an. Die Ausstellung Bewegt im Kunstmuseum Wolfsburg ist die seit 20 Jahren umfassendste Ausstellung mit Werken Christian Boltanskis im norddeutschen Raum.

Das Museum besitzt in seiner Sammlung das für den Künstler "entscheidende" Werk "Menschlich" aus dem Jahre 1994. In diesem zentralen Archiv des Boltanskischen Kosmos hat der Künstler 1200 Fotografien seiner 1970 bis 1994 entstandenen Porträtinstallationen zusammengeführt: Menschen verschiedenen Alters, Geschlechts, sozialen Status sowie unterschiedlicher Herkunft, Religion und Nation, aber auch Täter und Opfer. Die Fotos stammen u.a. aus vorgefundenen Fotoalben und Polizeiarchiven und wirken ob ihres Alters und ihrer Herkunft verblichen, wie aus einer anderen Zeit. Wer von diesen Personen noch lebt, ist unsicher. Einer aber lebt sicher noch: Christian Boltanski, der sich selbst eingereiht hatte in dieses Meer von einstmals Gekannten und heute zumeist anonymen Individuen.

200 dieser Portraits hat der Künstler nun in Wolfsburg aus diesem Archiv Menschlich, das ebenfalls Teil der Ausstellung ist, herausgenommen, auf großformatige transparente Tücher gedruckt und zu einer neuen kinetischen Arbeit mit dem Titel Geist(er) zusammengeführt. Die Ausstellung trägt den beziehungsreichen Titel Bewegt und knüpft an frühere Projekte Boltanskis wie Menschlich, Sachlich, Örtlich und Sterblich an.

Die überdimensionalen Porträt-Tücher der für das Kunstmuseum konzipierten Arbeit hängen von der Decke der Halle in regelmäßigen Abständen, aber in unterschiedlichen Höhen herab, so dass sie das gesamte Volumen des Raumes ausfüllen. Einige von ihnen bewegen sich an Ort und Stelle im leichten Luftzug des Raumes, andere schweben - an einem Transportmechanismus hängend - zwischen diesen hindurch. Dank der hohen Transparenz der Tücher überlagern sich so die Physiognomien für Augenblicke, um gleich darauf wieder zu verschwinden. Die auf den durchsichtigen Tüchern abgebildeten Gesichter wecken in ihrer Flüchtigkeit umso mehr das Bedürfnis, jeden einzelnen dieser Menschen "erkennen" , etwas über sein Schicksal zu erfahren zu wollen.

Manche Gesichter erscheinen noch kräftig gedruckt, andere sind durch den wiederholten Reproduktionsprozess schon ganz verblichen. Der Mensch stirbt nach Boltanski zwei Tode: einmal den physischen und dann den immateriellen Tod, wenn auch langsam das Bild und die Erinnerung an das Individuum verblassen. Ein ganz normaler Prozess, den der Künstler gelassen darstellt – angesichts des Umstandes, dass durch die neuen Kommunikationsmedien wie dem Internet Gesichter faktisch viel länger gespeichert bleiben. Geist(er) hat der Künstler diese Installation genannt, und er verbindet damit die Vorstellung, dass unser Gesicht ein Puzzle der vorausgegangen Toten ist: "Und da unser Geist von unseren Vorfahren kommt, bin ich mir sicher, dass es in uns noch all die Toten gibt, die vor uns unter anderen Bedingungen existierten." (CB)

Auch die weiteren Arbeiten in der Ausstellung gruppieren sich um dieses Thema, wobei Boltanski sich in konzentriertem Maße mit dem Verschwinden seiner eigenen Person beschäftigt: In der Diaprojektion "Entre Temps" (2003) sind es Porträtaufnahmen, die ihn selbst in unterschiedlichen Altersstufen zeigen – Lebenszeit, die man im Zeitraffer wahrnimmt; die Installation "Die letzte Sekunde" zählt unerbittlich die Sekunden seines bisherigen Lebens. Bei seinem Tod wird der Zähler stehen bleiben. In diesen ebenso bewegten wie bewegenden Arbeiten unternimmt er den Versuch, das Fließen der (Lebens-)Zeit zu erfassen. Auch der 2007 eröffnete Japangarten des Kunstmuseums ist Teil der Ausstellung geworden. Boltanski verteilt dort in japanischer Tradition zahlreiche Stäbe mit kleinen Glöckchen, deren leiser Klang im Wind mit den Bewegungen der Tücher im Inneren des Museums korrespondiert.

Die Thematisierung des eigenen Todes radikalisiert Boltanski in einem einzigartigen Kunstprojekt, in dem er sein eigenes Leben in übertragenem Sinne "aufs Spiel setzt", um wie er sagt "sich an das Sterben zu gewöhnen": Er ging mit dem Sammler Dan Walsh eine Wette ein: Für eine Arbeit zahlt ihm der professionelle Glücksspieler nicht einen Festbetrag, sondern eine Leibrente und zwar bis zu seinem Tode. Nach sieben Jahre wäre das Werk abbezahlt. Stirbt Boltanski vorher, macht der Sammler ein Geschäft, wenn nicht, der Künstler. Das Werk besteht darin, dass vier Kameras das Geschehen in Boltanskis Pariser Studio live filmen und die Bilder auf die südaustralische Insel Tasmanien übertragen, wo Dan Walsh "die letzten Jahre des Künstlers" auf DVD archiviert. Für Boltanski ist es allerdings egal, ob er schon in drei, in fünf oder erst nach sieben Jahren stirbt: Er ist in diesem Spiel immer ein Gewinner.

Neben den Fotoportraits und der Wette mit Dan Walsh legt Boltanski seit Jahren noch ein weiteres Archiv an: Er sammelt Herztöne. Mittlerweile haben ca. 60.000 Menschen weltweit ihren Herzschlag auf Tonträger aufzeichnen lassen. Das Archiv mit dem Titel "Herzschlag für die Ewigkeit" befindet sich auf der japanischen Insel Teshima.

Gerade im Hinblick auf die neuen Sozialen Netzwerke und auch hinsichtlich der Diskussion um ein posthumanes Zeitalter, in dem es egal ist, ob hinter dem sprechenden Gesicht ein lebendes Individuum steht oder eine Maschine, gewinnt Boltanskis fundamentale Befragung der Kernelemente menschlicher Existenz, Leben und Tod, eine hohe Brisanz und bringt sie mit minimalen Gesten, Leichtigkeit, Selbstverständlichkeit und Gelassenheit zur Sprache. Und anders als die Religionen, die Antworten geben wollen, bescheidet sich Christian Boltanski auf das Fragen – Fragen, die durch den Blick auf das Leben und Werk dieses Künstlers eigentlich schon Antworten enthalten.

Christian Boltanski – Bewegt
2. März bis 21. Juli 2013