Candide im Musik Theater an der Wien. Verböste Welt oder doch die beste aller möglichen?

Selten sind sich alle, wirklich alle über die Exzellenz einer Aufführung so einig, wie bei Candide von Leonard Bernstein am MusikTheater an der Wien. Erstklassig ist die Inszenierung von Lydia Steier – aktuell eine der begehrtesten Regisseurinnen – als große Bühnenshow, brillant die musikalische Leitung von Marin Alsop, Chefin des ORF Radio-Symphonieorchester Wien. Und Leonard Bernstein war nicht nur ihr Mentor, er dirigierte tatsächlich auch das RSO schon einmal (1986 , A Quiet Place) in der Staatsoper.

Als "Comic Operetta" wird Candide eingeordnet, oder ist es doch eine Komische Oper? Leonard Bernstein sinniert darüber in einem Interview mit sich selbst am 18.11.1956, zwei Wochen vor der Uraufführung: "Die besondere Mischung von Stilen und Versatzstücken, die in dieses Werk eingegangen sind, macht es möglicherweise zu etwas ganz Eigenem. … Es scheint für Candide in unserem Theaterrepertoire bisher kein Vorbild zu geben, die Zeit wird es also weisen." Jedenfalls gehört die in Konzerten häufig gespielte Ouvertüre zu den bekanntesten Stücken des Komponisten und bleibt als Ohrwurm bis in den nächsten Tag hängen. Interessant ist auch, dass Bernstein zeitgleich am Musical West Side Story arbeitete und mehrere Musikstücke zwischen den beiden Werken verschoben wurden.

Worum geht es also in diesem Stück? Der junge, naive Candide lernt, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben, und dass in jedem Übel zugleich etwas Gutes zu entdecken sei. "Candide oder der Optimismus" ist der Titel des zugrundeliegenden satirischen Romans von Voltaire (1759), der sich damit den philosophischen Thesen von Gottfried Wilhelm Leibniz entgegenstellt. Für die Operette und Bernstein bedeutet dies: "Voltairs Satire ist übernational, denn sie holt alle dunklen Flecken ans Licht, egal ob in Europa oder in Amerika. … Natürlich schreibe ich keinen Jazz, allein schon deshalb nicht, weil wir es mit Ereignissen aus einer Zeit zwischen 1750 und 1830 zu tun haben. In Candide springen wir mit den musikalischen Stilen zwischen den Zeitebenen wie beim Spiel Himmel und Hölle … Genauso wie Voltaire zwischen den Örtlichkeiten auf zwei Hemisphären hin und her springt." 

Die zahlreichen Schauplätze und Begebenheiten sind es auch, die eine Bühnendarstellung extrem schwierig machen. Nach vielschichtigen Überarbeitungen gilt die Konzertfassung (1989 in London aufgeführt) als letztes Wort des Komponisten zu Candide. Ohne dramaturgischen Kunstgriff mit einem Erzähler (überlegen und in Sprachdeutlichkeit den Rahmen um die turbulente, paradoxe Handlung ziehend – Vincent Glander) würde diese als solche auch nicht funktionieren. 

Im MusikTheater an der Wien nimmt die Regisseurin Lydia Steier alle Herausforderungen bravourös an. Sie kann auf ein geniales Bühnenbild, das in vierschichtigen, mit Glühbirnen umrahmten Ebenen auch perspektivisch in die Tiefe geht; und aufwändigste Kostüme (398 Teile für 60 Darstellerinnen!) zählen, an denen man sich gar nicht satt sehen will. Candide (Tenor Mathew Newlin, so glaubwürdig und in seiner Naivität ergreifend) liebt Cunegonde (die deutsche Sopranistin Nikola Hillebrand, nicht nur wunderschön anzuschauen, sondern ebenso singend), mit der er am Schloss des Barons von Dr. Pangloss (sonor und wohlklingend, der nordirische Bariton Ben McAteer) in Sachen Weltsicht unterrichtet wird. Der Lehrer wird bis zum Ende an seinem Optimismus festhalten, auch wenn er den Überfall der Bulgaren auf das Schloss, seine Syphiliserkrankung, sogar die Hinrichtung in Lissabon auf wundersame Weise überlebt. 

Candide ist ständig auf der Flucht: Von Westfalen nach Lissabon, wo er mitten ins desaströse Erdbeben (tatsächlich am 1.11.1755 geschehen, mit Tsunami und Feuerkatastrophe) gerät; unvermittelt nach Paris, wo er seine geliebte Cunegonde als Mätresse antrifft, und (sich selbst überraschend) die beiden Liebhaber – den Erzbischof und den jüdischen Bankier – niedersticht. Zum Mörder geworden macht sich Candide per Schiff (und immer wieder sinkt es, er überlebt natürlich) auf nach Cádiz, nach Buenos Aires, in die Welt des Tangos, nach Eldorado, wo das easy aufgesammelte Gold gleich wieder für die Überfahrt nach Venedig draufgeht. Wieder Schiffsbruch, witzig die Kollegen (inklusive Trump), die ebenfalls untergehen, wieder trifft er auf den unbeirrbaren Lehrer Dr. Pangloss (beide mittels Schiffsplanken gerettet), und er landet im total verkommenen „Las Vegas des 18. Jahrhunderts“, Venedig, trifft seine Cunegonde als Kurtisane an. Desillusioniert, doch geläutert, erkennt er: "Life is neither good nor bad". Er heiratet seine ewige Liebe, auch wenn er sich fragt, ob diese Frau die katastrophenreiche Reise durch die verböste Welt – immer auf der Suche nach ihr – überhaupt wert gewesen wäre. 

"Make our garden grow" wird durch die Musik zum Appell an die Menschen, und macht den Optimismus über die „beste aller möglichen Welten“ obsolet. "Woran ich glaube", schreibt Leonard Bernstein 1954 in einem Essay: "Ich glaube, es ist die edelste Gabe des Menschen, sich zu ändern. … Ich glaube an die Möglichkeiten der Menschen. Ich kann nicht tatenlos zusehen, wenn jemand im Namen der ‚menschlichen Natur‘ resigniert aufgibt. … Sobald wir glauben, dass der Mensch niemals eine Gesellschaft ohne Krieg zuwege bringen wird, sind wir auf ewig zum Kriegführen verurteilt." 

Candide von Leonard Bernstein
A Comic Operetta in zwei Akten
Szenische Aufführung der Concert Version 
Buch von Hugh Wheeler nach Voltaire
Gesangstexte von Richard Wilbur

Erzähltext für Konzertaufführungen von Leonard Bernstein und John Wells
nach der Satire von Voltaire und dem Buch von Hugh Wheeler 
bearbeitet und ergänzt von Erik Haagensen

Musikalische Leitung: Marin Alsop
Inszenierung: Lydia Steier
Bühne und Video: Momme Hinrichs
Kostüm: Ursula Kudrna
Licht: Elana Siberski
Choreografie: Tabatha McFadyen
Dramaturgie: Kai Weßler

Erzähler: Vincent Glander
Candide: Matthew Newlin
Cunegonde: Nikola Hillebrand
Dr. Pangloss / Martin: Ben McAteer
Old Lady: Helene Schneiderman

ORF Radio-Symphonieorchester Wien
Arnold Schoenberg Chor, Leitung: Erwin Ortner

Candide
vom 17.Jänner bis 3. Februar 2024
im MusikTheater an der Wien
Museumsquartier Halle E