Böser Wolf

1. Juni 2011 Rosemarie Schmitt
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"In einem einzigen Beckenschlage aus einem lisztschen Werke drückt sich mehr Geist und Empfindung aus, als in allen brahmsschen Sinfonien!" Dies behauptete Hugo Wolf. Böser Wolf! Und dabei bewunderte er einst sogar den fast 30 Jahre älteren Brahms, solange jedenfalls, bis der bärtige Brahms (45) nicht bereit war, dem jungen Wolf (18) dessen noch flaumigen Pelz zu kraulen und ihn statt dessen in seiner Eitelkeit verletzte.

Wolf hatte dem erfahrenen Kollegen eine Komposition zur Begutachtung vorgelegt. Nach guter Beobachtung riet Brahms Wolf zu Studien bei Gustav Nottebohm, um seine Mängel bezüglich der Kontrapunkttechnik auszumerzen. Das war‘s dann für Wolf mit der Bewunderung. Ich nehme an, Brahms nahm es gelassen und nicht wichtig, zog ehrendoktorwürdig von dannen und es vor, an seiner "Akademischen Festouvertüre" weiter zu arbeiten.

Im "Harenberg Komponistenlexikon" gibt es Rubriken, in denen die wichtigen Stationen im Leben der Komponisten vermerkt wurden. Bei Hugo Wolf wird die erste Begegnung mit Brahms im Jahre 1879 erwähnt, nicht jedoch bei Brahms.

Zu der "Akademischen Festouvertüre", die Brahms 1880 komponierte, schrieb er an seinen Verleger Simrock, es handele sich hier um eine "sehr lustige Akademische Fest-Ouvertüre, mit Gaudeamus und allem Möglichen...". Außerdem sah er die Notwendigkeit, diese Ouvertüre nicht ohne Gegenpart aus dem Hause zu lassen, und lieferte gleich das Pendant, die "Tragische Ouvertüre" mit. Brahms nannte sie die "Trauerspiel-Ouvertüre" und auch die "Dramatische", wie könnte es anders sein, in d-moll.

6 Jahre bevor Johannes Brahms geboren wurde, starb Beethoven und hinterließ allen Komponisten, die sich nach ihm an Orchesterwerken versuchen sollten, ein schweres Erbe. Brahms arbeitete viele Jahre an seiner 1. Sinfonie, bis er sich damit in die Öffentlichkeit traute, um sich der für ihn so übermächtigen Konkurrenz zu stellen.

Kürzlich hörte ich seine 4 Sinfonien, die beiden erwähnten Ouvertüen, sowie die Haydn-Vatiationen in der Einspielung des London Symphony Orchesters unter der Leitung von Yondani Butt. Diese Doppel-CD erschien Anfang dieses Jahres bei NIMBUS-Alliance (Vertrieb: EDEL-Records) und ist unerhört hörenswert. Was die Sinfonien betrifft, mein lieber, böser Wolf, so reichen die ersten Takte einer einzigen brahmsschen Sinfonie, um Ihre Aussage zu widerlegen und Sie einen Lügner zu schimpfen!

Doch tue ich Hugo Wolf in Wahrheit Unrecht mit der Behauptung, er sei ein Lügner, denn ich ließ seinen tatsächlich krankhaften Realitätsverlust völlig außer Acht. Als Wolf 37 war, wurden erstmals seine Wahnvorstellungen dokumentiert, die schließlich dazu führten, daß er in die Landesirrenanstalt in Wien eingewiesen werden musste, wo er bereits mit 43 starb. Armer Wolf!

Beethoven bleibt Beethoven, Brahms bleibt Brahms, Schaf bleibt Schaf, Wolf bleibt Wolf!

Ich bleibe herzlichst,
Ihre Rosemarie Schmitt