Arno Gisinger – Topoï

Seit über fünfzehn Jahren entwickelt Arno Gisinger eine pluridisziplinäre künstlerische Praxis, die Fotografie mit Historiografie verbindet. Beeinflusst durch die deutschen Denkschulen der Zwischenkriegszeit und die Methoden der neuen Geschichtsschreibung, versucht er in seinen Projekten eine zeitgenössische Neuinterpretation von Geschichtsschreibung am Beispiel ausgewählter Orte und Nicht-Orte der Erinnerung.

Er schafft neue Formen und Figuren, indem er sich des Archivs, des Dokuments oder der Zeugenschaft im Sinne eines living memory bedient. Arno Gisinger arbeitet nicht nach fotografischen Genres, sondern stellt je nach Projekt Menschen, Dinge oder Topografien in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen.

Die aus der Partnerschaft mit vier europäischen Fotoinstitutionen hervorgegangene Ausstellung "Topoï" wird ab 30. Juni 2013 im Photoforum PasquArt gezeigt. Die Ausstellung versammelt die wichtigsten Bildserien des Künstlers Arno Gisinger, der seit 15 Jahren eine Praxis entwickelt hat, die Fotografie und Geschichtsschreibung verbindet. In seiner Arbeit, welche die massgeblichen Konflikte des 20. Jahrhunderts als Ausgangsmaterial verwendet, liefert er eine zeitgenössische Interpretation der visuellen Vergangenheitsdarstellung und der Orte oder Nicht-Orte der Erinnerung.

Der ursprünglich aus Österreich stammende und seit 2004 in Paris lebende Arno Gisinger (*1964) nimmt in der zeitgenössischen Fotografie eine Sonderstellung ein. Gleichzeitig Fotograf und Historiker benutzt er das Fixbild als Analyse- und Forschungsinstrument, unterstreicht dabei aber dessen dokumentarische und narrative, ja literarische Dimension. Im Zentrum seiner künstlerischen Arbeit steht die Geschichtsschreibung, der Schriftzug der Geschichte, die er in ihren verschiedenen Ausdrucksformen und -mitteln hinterfragt: Zeugenaussagen, Gegenstände, Örtlichkeiten und Bilder. Indem er verschiedene historische Ereignisse untersucht, zeigt er auf, dass die Vergangenheit eine Konstruktion ist, an der vor allem in der Gegenwart gebaut wird.

Im PhotoforumPasquArt werden zehn wichtige Serien gezeigt. Die Ausstellung nutzt dabei die örtlichen Gegebenheiten. Einige der Serien nehmen direkten Bezug auf den Zweiten Weltkrieg und die Shoah. "Oradour" – so heisst ein französisches Dorf, das im Juni 1944 von der Waffen-SS völlig zerstört wurde – setzt sich mit Ruinen auseinander und kann als Metapher der Fotografie verstanden werden, wird doch einerseits die Zeit angehalten und andererseits eine "Maschine" in Gang gesetzt, welche diese Zeit gleichzeitig wieder wachruft. "Invent arisiert" schliesslich illustriert die Enteignung von jüdischem Eigentum anhand des zeitgenössischen Inventars von Gegenständen, die im nationalen österreichischen Mobiliendepot gelagert sind: Ein serielles Ensemble verzeichnet 645 Objekte, von denen zwei Drittel verschollen sind und nur noch mit einem Namen und einer Inventarnummer vertreten sind.

Für seine Arbeit "Konstellation Benjamin" hat Arno Gisinger das Exil des deutschen Denkers Walter Benjamin nachgezeichnet (1933 bis 1940). Es werden Bilder von konkreten Orten von Berlin bis Portbou gezeigt, die Benjamin besucht hat. Die Bilder werden überlagert von Auszügen aus der Korrespondenz des Philosophen. Aus der Kombination entsteht ein Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Geschichtsforschung und Fotografie. Die Bilder aus dieser Serie werden im PhotoforumPasquArt in Form eines Parcours gezeigt, der sich aus grossformatigen, ephemeren Plakaten zusammensetzt.

Andere Arbeiten wiederum widmen sich den Werkzeugen, die für die Rekonstruktion von Geschichte zum Einsatz kommen. "Faux Terrain" und "Betrachterbilder" thematisieren das Tirol-Panorama von Innsbruck/A, das auf einem tausend Quadratmeter grossen Rundgemälde eine Schlacht zwischen Tirolern und Franzosen im Jahr 1809 zeigt. Die beiden sich aufeinander beziehenden Serien hinterfragen die Interpretation des Geländes und den Ort des Betrachters im Angesicht der visuellen und fiktiven Neuauslegung der Geschichte.

Arno Gisinger dehnt diese Reflexionen auf Vietnam aus: In "Cù Chi" zeigt er Darstellungsformen des Befreiungskampfes des Vietcong zwischen der Rekonstruktion der legendären unterirdischen Tunnels und Attraktionen eines Freizeitparks. Im Kontrast zu diesen Bildern setzt die Serie "Veteranen" den Akzent auf aktuelle Portraits von ehemaligen Helden des Befreiungskampfes und gibt ihnen damit die Identität zurück, die ihnen in der westlichen Bildmaschinerie genommen worden war.

Die jüngste Geschichte bildet ebenfalls Gegenstand von Arno Gisingers Arbeit. In "Plan américain" setzt er Gegenstände in Szene, die der Erinnerung an die Ereignisse vom 11. September 2001 dienen. Eine rätselhafte, aufrecht vor einem weissen Hintergrund stehende Person präsentiert vor der Kamera verschiedene Erinnerungsobjekte, denen allen gemeinsam ist, dass sie das symbolträchtige Bild nutzen, auf dem das Hissen der Fahne auf Iwo Jima im Jahr 1945 zu sehen ist, allerdings transponiert auf die Ruinen des World Trade Center, wodurch eine doppelte Bildhaftigkeit entsteht. Zwei grossformatige Bilder aus der Serie werden auf der Fassade des Photoforum PasquArt gezeigt, wodurch sie ein starkes Zeichen setzen sowie die Verbindung zur Aussenwelt herstellen.

"Topoï" (Plural von griechisch Topos: "Ort" oder "Motiv") bietet die Gelegenheit, die Arbeiten von Arno Gisinger neu und in Perspektive gesetzt zu sehen und sie szenographisch zu befragen. Der Raum des PhotoforumPasquArt zeigt sich als Ort des Experiments, als ein Labor, in dem die Aufhängung und Präsentation selber zum Motiv wird und einen Einblick ermöglicht in den Schaffensprozess, in dessen Verlauf die Serien entstanden sind, die mit dem Ort und auch untereinander kommunizieren.

"Topoï" ist ein Projekt, an dem vier Institutionen (das Museum für Photographie Braunschweig in Deutschland, die Landesgalerie Linz in Österreich, das Centre Photographique d’Ile-de-France in Frankreich und das PhotoforumPasquArt in der Schweiz) beteiligt sind. Der aus diesem Anlass publizierte und gemeinsam von Trans Photographic Press und dem Bucher Verlag herausgegebene, umfassende Werkband enthält sämtliche Arbeiten von Arno Gisinger in Form von Dossiers und übernimmt damit symbolisch die Rolle eines fünften Ausstellungsortes.

Arno Gisinger, geboren 1964 in Dornbirn (Österreich), Studium der Fotografie an der École nationale supérieure de la photographie in Arles (Frankreich), Studium der Geschichte und Germanistik an der Universität Innsbruck sowie der Soziologie an der Universität von New Orleans (USA). Die Ausbildung als Fotograf und Historiker sowie ein wachsendes Interesse für die Wechselwirkungen zwischen Fotografie und den Humanwissenschaften führten zu künstlerischen Arbeiten über visuelle Darstellungsformen von Geschichte und Erinnerung. Seine künstlerische Praxis ist von theoretischen Reflexionen sowie Reisen und Künstlerresidenzen (Indien, Vietnam, London, Paris) begleitet. Er unterrichtet an der Universität Paris 8 und an der École supérieure d’art de Lorraine (Metz / Épinal). Arno Gisinger lebt und arbeitet in Paris.

Arno Gisinger – Topoï
30. Juni bis 25. August 2013