Am Julierpass steht ein roter Theaterturm

Der Überraschungseffekt, wenn dort oben am Hochgebirgspass plötzlich ein imposanter, abstrakt ausgeformter roter Turm steht, blieb für mich natürlich aus, denn ich habe ihn gezielt angesteuert. Mit dem Postbus-Shuttle wurden wir als erwartungsfrohe Besucherschar aus allen Richtungen angekarrt, zur außergewöhnlichen Tanzaufführung, einer der letzten an diesem Ort, denn das temporär errichtete Origen Juliertheater muss wieder abgebaut werden.

Wer wagt sich so mutig über solch exaltiertes Projekt? Intendant Giovanni Netzer nimmt den Namen seines Kulturfestivals in den Alpen wörtlich. Origen – Ursprung. Symbiose von Natur und Kultur – Welttheater, ausgesetzt den Jahreszeiten, dramatischen Wetterstürzen, und die gewaltige Landschaft wird zur Kulisse, zum Darsteller. Weitab von hermetisch abgeschotteten Theaterbauten mit den trennenden Vorhängen verschmelzen hier Bühne, Publikum, Raum und Umfeld zu einem ganzheitlichen Erlebnis. Keine Blackbox, sondern "ein Ort, an dem wir üben können, uns den Naturgewalten zu fügen und mit ihnen zu arbeiten. Hier kann man über das eigene Leben und die Ewigkeit der Steine nachdenken."

Der filigran als Zehneck konstruierte Theaterturm öffnet sich mit fünfzig sakral anmutenden Bogenfenstern unmittelbar in die Weite des Himmels über den Gipfeln der Berglandschaft. Das Abendlicht changiert in unbeschreiblichen Tönen und sinkt nach Blau-lila ins Dunkle, gesprenkelt mit strahlenden Sternpunkten. Mitunter. Um die frei eingehängte Plattform kreisen die Zuschauerränge und münden in den Fensternischen. Insgesamt vierzig vorgefertigte Holzelemente mit dem Grundriss eines Pentagramms – in beeindruckenden Maßen von acht Metern Höhe, Durchmesser vier Meter, neun Tonnen schwer – wurden in logistischer Meisterleistung – bei der Durchfahrt des Dorfs Mulegns ging es um 15 cm – angeliefert und in wenigen Wochen aufgerichtet. Vier der zehn übereinander gesteckten Türme beinhalten eine Wendeltreppe, nur an diesen Innenwänden bleiben die dicken Brettsperrholzplatten natur, alles weitere ist tiefrot lasiert.

Nach sechs Jahren ist außen die Farbe verblasst, abgewettert. Genauso war es gedacht. "Nichts ist ewig. Nicht auf der Bühne. Und schon gar nicht hier oben in den Bergen, wo der Winter brutal hart ist und der Wind mit bis zu 250 km/h über den Pass fegt. Der Turm wird so unvollendet bleiben wie jener in Babylon. Denn wenn man hier oben Theater macht, dann muss man auch akzeptieren, dass am Ende die Naturgewalten siegen werden", sagt der Visionär Giovanni Netzer und baut schon am nächsten, dem "Weissen Turm" in Mulegns: ein komplett digital gedrucktes Gebäude, das von literarischen Himmelsreisen, vom Heimweh der Bündner Emigranten und vom kühnen Geschmack der Mulegnser Zuckerbarone erzählt.

Das Kulturfestival Origen wirkt im Bauerndorf Riom in Graubünden, bespielt dort die mittelalterliche Heldenburg und die Clavadeira des Monsieur Carisch.