Alles gefilmt. Roméo et Juliette am Musik Theater an der Wien

Shakespeares Romeo und Julia gilt als Inbegriff der romantischen Liebesgeschichte. Im Musik Theater an der Wien transferiert die französische Regisseurin Marie-Eve Signeyrole die Tragödie in ein Hollywood der 1990er Jahre. Dass Film und Video-Livestream in Übermaßen eingesetzt werden, folgt der Logik ihrer Idee, doch die gezeichnete Figur der Protagonistin nicht unbedingt jener für eine jugendliche Lovestory.

Charles Gounods "Roméo et Juliette" war pünktlich zur Pariser Weltausstellung 1867 fertiggestellt und ein Renner: von April bis November hundert ausverkaufte Vorstellungen! Der Komponist setzte beim Publikum die Kenntnis der Handlung voraus und deshalb das Ende an den Anfang: Die Ouvertüre wird zum Requiem und der Text bleibt nahe an Shakespeares Prolog: "Wie ein rotes Leuchten am Gewitterhimmel erschien Juliette. Und Roméo liebte sie. […] Die unglücklichen Liebenden bezahlten mit ihrem Leben für das Ende eines jahrhundertealten Hasses, aus dem ihre Liebe entstanden war."

Der endlos scheinende Highway führt ins Nirgendwo, zwei Leichensäcke am Boden, die verfeindeten Clans in eindrücklichem Entsetzen. Es ist ein Flash-Moment, wenn der fantastische Arnold Schoenberg Chor einsetzt, ein unbeschreiblicher Sound bei den a-cappella Passagen, die Musik insgesamt betörend. Aber dann beginnt der erste Akt so reizüberflutend, dass die Aufmerksamkeit verloren geht: eine exaltierte Partygesellschaft in Glitzerkluft, teilweise mit Schweinskopf-Masken (ein Verweis wie´s hier zugeht?), wo ist Juliette, die gefeiert wird? Das zweistöckige Raumgerüst dreht sich immerfort, verwirrt bleiben die Gedanken am Leinwandbild der schönen Frau mit halbseitig entstelltem Gesicht hängen (das Programmheft klärt auf: es ist der Trailer für die nächste Capulet-Produktion), die parallel auch tatsächlich im Sportwagen vorfährt und sich als Juliette personifiziert. Sie raucht, sie trinkt, sie filmt, nimmt in den Focus was ihr gefällt, bis ihr Blick auf Roméo fällt, der sich unter die Feiernden gemischt hat. Es ist Liebe auf den ersten Blick, so steht es ja im Libretto.

 Das erste der vier großen Liebesduette findet vor Juliettes Schlafzimmer statt, hochgezoomt das erotische Beisammensein zu Viert in ihrem Bett. Vor einer transparenten Schicht singt ein berührender Roméo wunderschön. Bei Julien Behr funktioniert die Intention der Regisseurin hervorragend, die feine Gestik der Figuren nahe ins Publikum zu bringen. Man verliebt sich förmlich in diesen unbedarften, wohlmeinenden Roméo, was Marie-Eve Signeyrole auch beabsichtigt. Für Juliette verspielt sie jedoch alle Sympathien, wenn eine feministische Figur geschaffen werden will, die lasziv und ständig die Anderen mit ihrer Kamera zum Objekt macht. Verderbtheit ist keine Emanzipation, und dass sie sich so gegen ihren Vater auflehnt und nicht mehr Schauspielerin, sondern Filmemacherin sein will (Referenz an Sofia Coppola), ist weit hergeholt.

Die französische Sopranistin Melissa Petit ist gesanglich eine wunderbare Juliette, lyrisch mit perlenden Koloraturen zu Beginn, überzeugend dramatisch bei ihrer „Gift-Arie“. In bester Erinnerung sind die Partie als Marzelline in Fidelio (2020) und die Titelrolle in "Das schlaue Füchslein" an diesem Haus – eine Seltenheit, diese Häufung, in einem Stagione-Theater, bei dem für jede Opernproduktion ein neues Ensemble zusammengestellt wird. Zu einer Schlüsselfigur wird Bruder Laurent (Daniel Miroslaw) erhoben. Die Regisseurin zeigt ihn "als Cousin von Juliette, den sie schon lange kennt und mit dem zusammen sie möglicherweise erste intime Erlebnisse hatte", er scheint noch immer besessen von ihr zu sein, davon zeugt auch Juliettes Portrait, tätowiert auf seiner Brust.

Es kommt wie es kommen muss, die Fehde wird in tödlicher Autoraserei ausgetragen, bei der letzten Liebesszene ("Es ist die Nachtigall und nicht die Lerche") wird Zigarette und Camcorder nicht aus der Hand gegeben, und das schrecklichste Missverständnis in der Literatur endet drapiert am Sportcabrio unter den giftigen Abgasdämpfen.

Nach Pause und drittem Akt gelingt es besser, sich auf dieses musikalische Meisterwerk einzulassen. Kirill Karabits dirigiert das RSO Radio-Symphonieorchester Wien und weiß wohl, worum es Gounod in dieser Oper geht: nämlich "um die Gefühle, die ausgelöst werden. Die Musik deutet etwas an, eine Richtung, eine Geste, und sie bleibt immer in einer gewissen Distanz zum Drama. Es ist eine sehr sensitive Musik, die mehr beobachtet, als dass sie illustriert". Ist es die herausfordernde Akustik in der Halle E des Museumsquartiers, ist es die Überfrachtung mit Bildern, aber die diffizile Feinarbeit kommt nicht wirklich rüber. Trotzdem und jedenfalls ist es ein erfüllender Opernabend, der beschäftigungswürdige Eindrücke hinterlässt.

 

Charles Gounod Roméo et Juliette 
Drame lyrique in fünf Akten
Libretto von Jules Barbier und Michel Carré

Musikalische Leitung: Kirill Karabits
Inszenierung: Marie-Eve Signeyrole
Bühne: Fabien Teigné
Kostüm: Yashi
Licht: Sascha Zauner
Choreografie: Joni Österlund
Video: Artis Dzērve
Dramaturgie: Louis Geisler, Kai Weßler

Juliette: Mélissa Petit
Roméo: Julien Behr
Frère Laurent: Daniel Mirosław
Mercutio: Leon Košavić
Stéphano: Svetlina Stoyanova
Capulet: Brett Polegato
Tybalt: Brian Michael Moore
Gertrude: Carole Wilson
Le Duc de Vérone: Alexander Teliga
Paris: Andrew Hamilton
Grégorio: Timothy Connor
Benvolio: Adrian Autard

ORF Radio-Symphonieorchester Wien
Arnold Schoenberg Chor, Leitung: Erwin Ortner