Alfonsina Storni macht lesesüchtig

Berühmt ist die aus dem Tessin stammende Argentinierin Alfonsina Storni (1892–1938) nicht nur wegen den Gedichten – so hatte in Buenos Aires noch keine Dichterin gewagt zu schreiben – und ihrem dramatischen Selbstmord, sie gilt heute als eine der großen Wegbereiterinnen der modernen lateinamerikanischen Frauenliteratur, insbesondere wegen ihres rebellischen Geistes und ihrer nonkonformistischen Haltung. In einer vierbändigen Werkausgabe erschließt nun Hildegard E. Keller die Erzählerin, Prosaschriftstellerin, Literaturkritikerin, Journalistin, Kolumnistin, Theaterstückautorin Alfonsina in deutscher Übersetzung für einen ganz neuen Blick auf ihr Schaffen.

Hildegard Kellers Begeisterung ist ansteckend, wenn sie – wie unlängst im Theater am Saumarkt in Feldkirch – die Gründe aufzählt, warum sie gar nicht anders konnte, als sich so intensiv Alfonsina Storni zu widmen: "... Weil es einen Mythos um sie gibt, der die wirkliche Alfonsina unter sich begraben hat." Die Literaturwissenschaftlerin ist die Herausgeberin und Übersetzerin von zum Teil erstmals auf Deutsch erscheinenden Texten Stornis, wie im Band "Cimbelina". Dort finden sich Theaterstücke für Kinder und Erwachsene, Pantomimen und Farcen sowie der autobiografische Essay über den Theaterbetrieb in Argentinien. "Cardo" beinhaltet Briefe, Interviews, Autobiografisches und Nachrufe. In "Chicas. Kleines für die Frau" lernt man Alfonsina als pointierte Kolumnistin und Journalistin kennen, die sich unmissverständlich für die Rechte der modernen Frau einsetzt. Diese Texte erschienen meist auf der "Seite für die Frau" in Zeitschriften, eingeklemmt zwischen Rezepten und Kosmetikwerbung.

Auch den "Cuca. Geschichten" erging es so. In diesem Band kann man sich der Erzählerin, Prosaautorin und Literaturkritikerin nähern. Zum Beispiel geht sie dem Who-is-who im PEN-Club nach: ... "Benjamin Crémieeux, französischer Abgesandter: Man begegnet ihm argwöhnisch. Man fürchtet, in seinem Bart könnten sich Mitglieder des Völkerbunds versteckt haben." ... "Stefan Zweig, österreichischer Delegierter: Gebt ihm einen Schatten von der Grösse eines Blatts und er wird den ganzen Wald sehen." Man wollte nicht aufhören zu zitieren – aus der witzigen Geschichte, in der das Damenkostüm über seine Befindlichkeiten spricht, aus dem Reisetagebuch, dem Zugfensterheft: "Ist denn jede Blume mit ihrer Umgebung zufrieden? Eine Palme in der Pampa, das kostet die Tropische doch ihr Leben."

Unheimlich ob der Aktualität wird’s "Am Scheideweg": "Hart sind unsere Tage, und noch härter werden die künftigen sein. Nach dem grässlichen Wüten des Kriegs kann das Ideal der Einheit in Liebe, nach dem sich die Menschheit sehnt, nur Wirklichkeit werden, wenn Einzelinteressen überwunden werden. Ausgeprägte Einzelinteressen haben nun aber sehr viele von uns Menschen. Wie immer, wenn der Mensch die Gesellschaft als ganze vorwärtsbringen möchte, lauern die schlimmsten Feinde in ihm selbst, nicht außerhalb. Sie zu besiegen ist unsere große Herausforderung."

Hildegard Keller in ihrem Nachwort: "Die Zeit, sagte Alfonsina Storni einmal, sei nach ihrem Tod für ihr Werk verantwortlich, denn sie werde aussortieren, was am Tageslicht bleiben darf. Und über alles andere lasse sie eben ein paar Schaufeln Erde fallen, und das sei ganz recht so." Keller hat mit den vier Bänden einen wesentlichen Beitrag geleistet und Großartiges wieder ausgegraben, was uns heute noch beeindruckt und nachhaltig wirken kann.

Alfonsina Storni: Cuca. Geschichten.
Herausgegeben und übersetzt von Hildegard E. Keller. Gebunden, 27 Farbillustrationen, 264 Seiten. Edition Maulhelden № 4. Zürich 2021. ISBN: 978-3-907248-04-1